Der Richter und der Esel: Ein ganz besonderes Reittier

Der Richter und der Esel: Ein ganz besonderes Reittier
unsplash.com - Alfredo Mora

Warum Jesus sich gerade dieses Tier aussuchte? Von Stephan Kobes

Leseszeit: 12 Minuten

Begeisterte Hosianna-Rufe hallen durch die Luft. Neugierig eilen aus allen Richtungen Schaulustige herbei, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Schnell hatten sie noch einen Palmzweig abgeschnitten um diesen Mann damit zu huldigen. Hatte man nicht gesagt, dass dies der neue König Israels sei? Da kommt er auch schon. Umringt von seinen treuesten Gefährten reitet er auf einem jungen Esel die Straße hinauf. Sein Name ist Jesus. Man hatte viel von ihm gehört. War jetzt der ersehnte Moment gekommen, an dem er das Zepter der Nation ergreifen würde?

Wir kennen die Szene gut. Als er an diesem Tag in Jerusalem einritt, tat sich vor Jesus das letzte – das alles entscheidende – Kapitel seines bahnbrechenden Lebenswerkes auf. Der Prophet Sacharja hatte angekündigt, dass ein mächtiger König einst auf einem jungen Esel in die Heilige Stadt einreiten würde: »Frohlocke sehr, du Tochter Zion; jauchze, du Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir; ein Gerechter und ein Retter ist er, demütig und reitend auf einem Esel, und zwar auf einem Füllen, einem Jungen der Eselin.« (Sacharja 9,9)

Ein Esel für den Messias?

Tatsächlich hatte Jesus an diesem Tag einen Esel gewählt, »auf dem noch nie ein Mensch gesessen hatte« (Lukas 19,30). Als er dann an jenem Tag in Jerusalem einritt, sah die erwartungsvolle Menschenmenge darin das Zeichen der nahenden Messias-Herrschaft. Aber warum hatte Gott ausgerechnet einen Esel dafür vorgesehen? Verband Gott damit eine tiefere Absicht? Was hat dieses Tier denn an sich, dass es den langersehnten Messias-König zu seinem Amtsantritt tragen durfte?

Der Esel war im Orient schon lange ein bedeutsames Tier. Als Last- und Arbeitstier war er aus dem Alltag nicht wegzudenken (1. Mose 42,26; 45,23; 1. Samuel 16,20; 2. Samuel 16,1.2). Mal still, mal laut schreiend, sah und hörte man den Esel in Stadt und Land. Die Menschen schätzten ihn: arbeitswillig, zäh und verlässlich wie er war, war er ein ausgezeichneter Arbeiter. Aber der Esel ist in der Tat weit mehr als nur ein geduldiger Lastenträger! Dieses genügsame, intelligente und sanfte Geschöpf ist nämlich ein wahrer Wandlungskünstler: Er hätte als Herrscher der Steppe fernab aller Zivilisation ein gutes Leben führen können. Aber er gab diese Freiheit auf, um sich als Diener der Menschheit auszuzeichnen.

Vom Herrscher zum Diener

Ein Herrscher der Steppe? Ja! Der Wildesel kann große Entbehrungen verkraften, und lange Strecken auf sich nehmen. Dabei kommt er mit sehr wenig Nahrung und Wasser aus, und kann selbst große Hitze ertragen. Diese Qualitäten brachten ihm unter Fachleuten den Ehrentitel »König der Wüste« ein. Dank dieser Qualitäten wird der Wildesel auch in den Heiligen Schriften als Symbol für Freiheit gebraucht:

»Wer hat dem Wildesel die Freiheit gegeben, wer hat seine Fesseln gelöst. Ich gab ihm die Steppe als Lebensraum, die Salzwüste als sein Gebiet. Er lacht über das Lärmen in der Stadt, die Schreie des Treibers hört er nicht.« (Hiob 39,5-7 HFA)

Der Wildesel liebt die Freiheit. Er kann auch ganz auf sich alleine gestellt ein sehr gutes Leben führen. Ist es dann nicht erstaunlich, dass man seinen domestizierten Artgenossen – den Hausesel – stets als treuen Diener an der Seite des Menschen fand? Ja! Aber gerade dadurch zeichnete sich der Hausesel aus und machte sich damit zu einem geschätzten Symbol für Arbeit und Fortschritt.

Kein Fortschritt ohne den Esel

Man findet ihn überall auf der Welt. Es gibt ihn in jedem Land, auf jedem Kontinent. Selbst in den dunkelsten Zeitaltern nahm der Hausesel dem Menschen bereitwillig die schwersten Arbeiten ab: als Transportmittel, in der Landwirtschaft und bei der Produktion wichtiger Güter. Damit hat sich das treue Langohr große Verdienste erworben und maßgeblich am Aufblühen ganzer Zivilisationen mitgewirkt.

Wie kommt es dann, dass wir ihn heute gar nicht mehr zu Gesicht bekommen?

Ein undankbarer Tausch

Lange Zeit galt der Hausesel als das beste Transportmittel. Doch mit der Erfindung des Zweirades – unserem allseits beliebten »Drahtesel« – und dem Aufkommen des Verbrennungsmotors war es um den Esel als Transportmittel geschehen. Eine sich im Aufschwung befindliche Zivilisation drängte den Esel in den ländlichen Raum zurück. Aber auch in der Landwirtschaft wurde der Hausesel schließlich durch effiziente, aber laut ratternde Maschinerie ersetzt. Dabei übersahen die Menschen, dass kein Auto, kein Fahrrad, kein Lastwagen so gutmütige Augen und ein so anhängliches Wesen hat wie ein Esel.

Ein Allround-Talent

Aber es gibt ihn noch! In zahlreichen Bergregionen, die bis heute für die Errungenschaften des industriellen Fortschritts nicht erschlossen werden konnten, kann der Esel auch heute noch eine ganz besondere Stärke ausspielen: denn auch auf unwegsamem Terrain zeigt sich der Esel absolut trittsicher. Dafür lieben ihn die Bewohner jener Gegenden!

Anspruchslos und zäh, wie er ist, erweist er sich auch gleichzeitig intelligent, sanft und lernwillig. So kann ein Esel – nachdem er einmal verstanden hat, was man von ihm verlangt – manche Arbeiten auch ganz selbstständig erledigen. Dabei wählt der Esel immer die beste Option. Das kann dann schon mal als Sturheit missverstanden werden – wenn der Esel eben nicht die Alternative wählen würde, die der schlaue Befehlshaber ihm vorgeben will.

Stur wie ein Esel?

Ist der Esel also – wie das Klischee besagt – launisch oder störrisch? Nein! Esel sind sehr aufmerksam und überlegen gut, was sie tun – und zwar bevor sie handeln. Diese kluge Kreatur verarbeitet alles bedacht, was sie wahrnimmt und handelt. Das hat schon manchen Menschen vor großem Schaden bewahrt!

»Was habe ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?« (4. Mose 22,28) Bileam war verärgert. Seine Eselsstute wollte einfach nicht weitergehen. Eine Gefahr lag vor ihr, die nicht einmal der Prophet wahrnahm. Ein Engel Gottes hatte sich nämlich dem Propheten in den Weg gestellt, um ihn am Weitergehen zu hindern. Als Bileam – in der Hoffnung, seiner Eselin ihre vermeintlichen Flausen auszutreiben – nach seinem Stock griff und das arme Tier mehrfach damit schlug, gab Gott der Eselsstute die Möglichkeit, ihre Empfindung in menschlicher Sprache zu artikulieren. »Die Eselin aber sprach zu Bileam: Bin ich nicht deine Eselin, die du von jeher geritten hast bis zu diesem Tag? War es jemals meine Art, mich so gegen dich zu verhalten?« (4. Mose 22,30) Der Prophet verneinte. Dann zeigte ihm Gott, dass seine Eselin durch ihre vermeintliche Sturheit ihm gerade das Leben gerettet hatte.

Feinfühlige Liebe

Der Esel hat ein ausgeglichenes und sensibles Wesen. Er hat ein sehr feines Gehör, einen ausgeprägten Geruchssinn und gute Augen. Das, was um ihn herum passiert, nimmt er also sehr intensiv wahr. Stellt er sich stur, ist es gut möglich, dass er eine Gefahr erkannt, oder auch einfach eine bessere Alternative entdeckt hat. Es war also keine hämische Freude, die Bileams Eselsstute dazu bewog, sich dem Willen ihres Besitzers zu widersetzen. Nein! Der Esel ist – wie wir gleich sehen werden – tatsächlich eher ein Diener als ein Rebell.

In manchen Gegenden Rumäniens blieb der Landbevölkerung manchmal nichts anderes übrig, als ihren Hausesel im Spätherbst in den Wald zu treiben. Sie waren selbst so arm, dass sie es sich nicht leisten konnten, auch noch für das Futter des Esels aufzukommen. Die armen Verbannten waren dann gezwungen, den bitterkalten Winter in der kargen Winterlandschaft zu überstehen. Als dann im Frühjahr die Natur wieder zu neuem Leben erwachte, kehrten allerdings nicht wenige Esel zu ihren Besitzern zurück. Darin zeigt sich das Wunder einer Anhänglichkeit, die menschliche Schwäche nicht nachträgt!

Als Arbeits- und Lasttier, als treuer Freund und einfühlsamer Begleiter wich der Esel nicht von der Seite des Menschen. Als Diener menschlicher Schwäche (2. Mose 4,20; 2. Samuel 19,27; 2. Chronik 28,15) lässt er uns wissen, dass wir nicht allein sind mit den Lasten des Lebens. Dabei verrät das anhängliche Langohr eine außergewöhnliche Liebe.

Das perfekte Tier für den Messias

Gibt uns der Esel durch seine erstaunlichen Eigenarten also Aufschluss, warum Gott ihn ausgewählt hatte, den Messias an den Schauplatz zu tragen, an dem er kurze Zeit später die grenzenlose Liebe des Vaters offenbaren sollte? Ja! Er, der einst das Symbol der Freiheit war, – der Herrscher der Steppe – wird zum Diener des Menschen. Anstatt sich alleine, fernab von der Menschheit zu halten und über das Treiben der Menschen zu lachen, wurde er ein Diener, ein Freund, egal in welcher Lage. Das ist Treue. Das ist Liebe.

Damit hält der Esel die Erinnerung an Gottes Liebe wach – an seine Herrschaftsgrundsätze, die seinen Umgang mit uns Menschen bis heute prägen: »Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.« (2. Korinther 8,9) »Er war in allem Gott gleich, und doch hielt er nicht gierig daran fest, so wie Gott zu sein. Er gab alle seine Vorrechte auf und wurde einem Sklaven gleich. Er wurde ein Mensch in dieser Welt und teilte das Leben der Menschen.« (Philipper 2,6.7)

Der Esel und das Lamm

Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass der Esel nicht das Lamm Gottes darstellen sollte. Nicht der Esel sollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das war nicht seine Aufgabe, und das war auch nicht seine Art. Das Lamm Gottes war die Hauptattraktion. Nichtsdestotrotz war er das erwählte Transportmittel, um das Lamm Gottes an den Schauplatz zu tragen, an dem Gottes große Liebe zu der Menschheit offenbart werden sollte: in die Heilige Stadt.

Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, reitet auf einem Esel an den Ort des großen Opfers. Erinnert uns das nicht auch an Abraham, der seinen Esel sattelte und seinen Sohn Isaak mit sich nahm, um das befohlene Opfer darzubringen (1. Mose 22,3)? Ja!

Tapfer bis zum Schluss

An dieser Stelle rückt noch eine andere Eigenart des Esels in den Vordergrund: Der Esel ist nämlich – ganz im Gegensatz zu einem Pferd – kein Fluchttier. Als der junge Esel Jesus in die Heilige Stadt trug, geriet er trotz des lebhaften Bildes, das sich ihm bot, nicht in Panik. Da war kein Aufbäumen, keine Rebellion. Tapfer schritt er unter der Leitung von Gottes Sohn voran.

Damit zeigte sich der Esel natürlich als der perfekte Begleiter. Auch Jesus wollte sich angesichts der nahenden Gefahr nicht zur Flucht wenden: Er hatte sein Angesicht entschlossen nach Jerusalem gerichtet, um dorthin zu reisen – wohlwissend, dass es ihn das Leben kosten sollte – aber nichts und niemand sollte ihn davon abbringen (Lukas 9,51). Als sich die Schafe seiner Herde zerstreuten, trug ihn der Esel treu nach Jerusalem – an den Ort der Hinrichtung.

Der Esel und der Richter

Einem Bibelkenner wird natürlich nicht entgehen, dass in alttestamentlichen Zeiten die Söhne der Richter auf Eselsfüllen ritten.

Jair (hebr. »er erleuchtet«) beispielsweise, ein Richter Israels, »hatte 30 Söhne, die auf 30 Eselsfüllen ritten, und sie besaßen 30 Städte, die heißen »Dörfer Jairs« bis zu diesem Tag.« (Richter 10,4)

Auch der Richter Abdon (hebr. »der Dienstbare«)»hatte 40 Söhne und 30 Enkel, die auf 70 Eselsfüllen ritten; und er richtete Israel acht Jahre lang.« (Richter 12,14)

Auch das hat eine tiefere Bedeutung. Die Richter Israels hatten nämlich die Aufgabe, das Kommen Gottes als Richter anzukündigen. Dabei war kein Detail ohne Bedeutung. An dem Tag, als Jesus Christus dann in die Heilige Stadt einzog, war dann endlich der große Moment gekommen. Als Sohn Gottes war Jesus natürlich auch »der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten« (Apostelgeschichte 10,42). Auf welchem Tier ritt Jesus? Genau! Auf einem Esel!

Eine besondere Schlacht

Jesus ritt nicht hoch zu Ross – nicht zum Krieg oder Kampf gerüstet – in die Heilige Stadt ein. Nein! Der Esel war nie ein Kriegstier. Aber sein demütiges, dienstliebendes Wesen passten zu Jesu Sendung als Messias. Er kam nicht, um durch das Schwert zu erobern, sondern durch demütige, opferbereite Liebe. Darin lag das Zeichen seiner göttlichen Macht.

Als Jesus an diesem Tag nach Jerusalem einritt, kam er zwar als Richter, aber nicht, um im Krieg zu erobern. Er kam auch nicht, um zu fliehen. Er kam, um zu retten. Er machte sich auf den Weg zum ersten Strafvollzug. An sich Selbst – an seinem eigenen Leib – sollte nun das Urteil vollstreckt werden, das alle Übertreter des Gesetzes Gottes hätte treffen sollen. Das sollte geschehen, damit alle, die an ihn glauben, ewiges Leben haben können. Der Richter ließ sich als »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt« kreuzigen, damit wir frei ausgehen können (Johannes 1,29).

Eine sanfte Botschaft der Gnade

An diesem ersten Akt im großen Gerichtstag stellte sich der Esel dem von Gott eingesetzten Richter treu zur Seite. Damit half das treue Langohr durch seine erstaunlichen Eigenarten dem Lamm Gottes, das Andenken an Gottes einzigartige Gnade bis heute lebendig zu halten.

Was für ein wunderbares Geschöpf!

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