Der Vers »Wer die Rute schont, hasst seinen Sohn!« hat schon viele zur Gewalt in der Erziehung verleitet. Geht es auch anders? Von Kai Mester
Geht es meinen Kindern gut? Werden sie, wenn Jesus kommt, unter den 144 000 sein? Wie kann ich sie vor Abwegen bewahren? Ja, wie soll ich überhaupt erziehen? Die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Doch gerade die, für die Kindererziehung besonders wichtig ist, scheinen manchmal besonders viel verkehrt zu machen. Leider haben in den letzten Jahrzehnten viele Kinder, die in einem adventistischen Elternhaus aufgewachsen sind, der Gemeinde den Rücken gekehrt, und das mindestens für ein paar Jahre, wenn nicht sogar für immer.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Die Bibel und der Geist der Weissagung stellen uns das hohe Ziel vor Augen, das Gott mit uns und auch mit unseren Kindern erreichen möchte. Als Eltern kann man da schon mal in die Versuchung kommen, dieses Ideal auch durch Zwang oder Gewalt erreichen zu wollen. Denn steht nicht schon in der Bibel: »Wer seine Rute spart, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten« (Sprüche 13,24)?
Was bedeutet die Rute?
Ein Blick ins Hebräische zeigt, dass das Wort für »Rute« (shevet) in Psalm 23,4 mit »Stecken« übersetzt wird: »Dein Stecken und Stab trösten mich.« Nun sind ja Gewaltanwendung und Trost eigentlich zwei Gegensätze. Wie ist dann Sprüche 13,24 zu verstehen?
Schafe werden im Orient nicht wie bei uns getrieben, sondern geführt. Sie folgen dem Hirten, sie kennen und lieben seine Stimme: »Die Schafe hören auf seine Stimme, und er ruft seine eigenen Schafe beim Namen und führt sie heraus. Und wenn er seine Schafe herausgelassen hat, geht er vor ihnen her; und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme … ›Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir nach; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden in Ewigkeit nicht verlorengehen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.‹« (Johannes 10,3.4.27.28)
Im Bibelvers mit der Rute geht es nicht darum, Schmerzen zuzufügen oder Gewalt auszuüben, sondern die Kinder mit vollem Einsatz zu führen, zu beschützen und zu unterweisen. Ellen White schrieb zu einer Zeit, in der man die Rute weitaus großzügiger einsetzte als heute:
»Ein Kind ist kein Pferd oder Hund, dass man es ganz nach Lust und Laune herumkommandieren dürfte. Es darf nicht mit Rute, Gürtel oder bloßer Hand geschlagen und absolut beherrscht werden. Manche Kinder sind zwar so grausam, dass man nicht darum herumkommt, ihnen Schmerz zuzufügen, doch in den meisten Fällen macht diese Form der Erziehung den Fall nur noch schlimmer.« (Testimonies 2, 259; Zeugnisse 2, 259)
»Eine Tracht Prügel mag notwendig sein, wenn gar nichts mehr hilft, die Mutter sollte die Rute aber nicht benutzen, wenn sie es irgend vermeiden kann. Wenn mildere Maßnahmen nicht ausreichen, sollte liebevoll eine Strafe erfolgen, die das Kind zur Vernunft bringt. Häufig reicht eine solche Zurechtweisung fürs ganze Leben, um dem Kind zu zeigen, dass es nicht herrschen darf … Wie wunderbar könnte das Ergebnis sein, wenn Zurechtweisungen so erfolgen würden, dass sie das Herz gewinnen, statt es zu entfremden.« (Counsels to Parents, Teachers, and Students, 116; vgl. Wie führe ich mein Kind?, 153)
Was lehren uns die Pferde?
Gott bittet uns: »Seid nicht wie das Ross und das Maultier, die keinen Verstand haben; mit Zaum und Gebiss, ihrem Geschirr, muss man sie bändigen, weil sie sonst nicht zu dir nahen!« (Psalm 32,8) Er möchte mit uns nämlich anders umgehen: »Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, auf dem du wandeln sollst; ich will dir raten, mein Auge auf dich richten.« (Psalm 32,9)
Tatsächlich werden heute mancherorts sogar schon Pferde völlig gewaltfrei gezähmt und dressiert und dies schneller und wirksamer als mit der klassischen Methode. Diese Pferde gehorchen aus freiem Willen und haben Freude am Gehorsam. Wie viel mehr sollte gewaltfreie Kindererziehung möglich sein. Wünschen sich nicht alle Eltern eine enge und warme Beziehung zu ihren Kindern, frei von Druck und Spannung?
Jesus, das beste Vorbild für Eltern
Kann es sein, dass Jesus das beste Vorbild für Eltern ist? Können wir von ihm lernen, wie man Kinder erzieht? Er hatte doch keine Kinder! Gut, es gibt ein paar Erzählungen, wie er mit Kindern umgegangen ist: Er empfing sie herzlich auch zu ungelegener Stunde. Für ihn hatten sie nicht weniger Bedeutung als Erwachsene usw. Doch auch aus Jesu Umgang mit seinen Jüngern können wir für die Kindererziehung lernen! Denn Jesus nannte seine Jünger »Kinder«:
»Kinder, wie schwer ist es für die, welche ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, in das Reich Gottes hineinzukommen!« (Markus 10,24), »Kinder, nur noch eine kleine Weile bin ich bei euch« (Johannes 13,33), »Kinder, habt ihr nichts zu essen?« (Johannes 21,5), und zu Jerusalem sagte er: »Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!« (Lukas 13,34)
Hat Jesus seine Jünger mit Zwang erzogen? Hat er mit Druck gearbeitet, mit Drohungen, mit einem Belohnungssystem? Was für Konsequenzen setzte er, wenn sie sich anders verhielten als erwartet? Wie verhinderte er, dass sie sich in der Öffentlichkeit peinlich benahmen und ihn dadurch in ein schlechtes Licht rückten? Immerhin war er der Messias!
Warum kam nur einer von zwölf vom Weg ab?
Wäre es nicht gut, wenn wir alle mal vor diesem Hintergrund das Leben Jesu studieren würden und uns die Frage stellten: Warum ist nur ein Jünger von zwölf vom Weg abgekommen? Was hat Jesus gemacht, dass keiner der Jünger ausgebrochen ist? Warum blieben sie ihm treu und waren schließlich bereit für ihn den Märtyrertod zu sterben? War er streng und erteilte Befehle? Oder ließ er seine Jünger machen, was sie wollten?
Weder noch! Er war ein Magnet, er führte seine Jünger scheinbar kreuz und quer durch Israel, sanftmütig, aber mit einer faszinierenden inneren Kraft. Im Stich ließen sie ihn letztlich erst in Gethsemane bei seiner Festnahme. Die meisten adventistischen Eltern werden leider schon viel früher von ihren Kindern im Stich gelassen. Ist die Art, mit der wir unsere Kinder lieben, zu wenig so, wie Jesus seine Jünger liebte? Können wir von ihm für die Kindererziehung noch dazulernen?
Wann kam Jesus mit seinen Jüngern ans Ziel?
Ans Ziel gekommen ist Jesus mit seinen Jüngern erst an Pfingsten, nachdem er von ihnen gegangen war. Erst dann fingen sie an, sein Wesen wirklich widerzuspiegeln, die Frucht des Geistes zu bringen.
Die pharisäische Erziehung
Was ist unser Ziel mit unseren Kindern? Die folgenden Fragen sind an Matthäus 23 angelehnt:
Lasten wir wie die Pharisäer unseren Kindern »schwere und kaum erträgliche Bürden« auf? Erziehen wir sie, »um von den Leuten gesehen zu werden«? Wollen wir von unseren Kindern nach einem festgelegten Katalog mit Respekt behandelt werden? Lassen wir uns von ihnen bedienen? Machen wir lange Andachten und beten »zum Schein lange« mit ihnen? Machen wir aus ihnen Kinder der Hölle? Vermitteln wir ihnen durch unsere Erziehung, dass Geld und Leistung die wichtigsten Werte sind?
Achten wir penibel auf Kleinigkeiten (Minze, Anis, Kümmel – z. B. Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit), vergessen darüber aber Gerechtigkeit, Erbarmen und Vertrauen? Sind wir so auf den äußeren Gehorsam bedacht, dass wir dem Kind gar keine Chance geben, freiwillig und aus Liebe zu gehorchen? Gleichen wir getünchten Gräbern? Ist das Ergebnis unserer Erziehung letztlich nur Heuchelei, Fassade, die abbröckelt, wenn wir unseren Kindern den Rücken drehen oder wenn sie schließlich das Haus verlassen?
Ein neuer Geist
Die Kluft zwischen Ideal und Realität darf uns nicht dazu verleiten, mit widergöttlichen Methoden, mit Zwangsmaßnahmen und Gewalt, die Kinder auf der Überholspur ans Ziel bringen zu wollen. Lernen wir vielmehr von Jesus, darauf zu warten, dass unsere Kinder unter dem Einfluss des Geistes in ihrem eigenen Tempo wachsen! Tun wir alles, damit Gottes Geist durch uns zu ihnen ausströmen kann!
Wenn wir unseren Kindern gegenüber die Bergpredigt leben, wird dadurch aus uns kein Hoher Priester Eli, dessen Kinder missraten, sondern wir werden sie wie Jesus in intensiver Gemeinschaft führen können, Gottes Wunderwirken mit ihnen gemeinsam erleben, stundenlange Gespräche führen und vieles mehr. Sie werden unserer Stimme gerne folgen. Lesen wir dazu erneut die Evangelien und studieren das Leben Jesu, damit uns die Augen für Jesu Erziehungsmethoden geöffnet werden!
Zuerst erschienen in Versöhnungstag, Oktober 2011
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