Wie ein Fels in der Brandung stehen. Von Ellen White
Luther zitterte, als er sich selbst betrachtete – ein einziger Mann gegen die Mächtigsten der Erde. Manchmal zweifelte er, ob es wirklich Gottes Führung war, dass er sich gegen die Autorität der Kirche stellte. »Wer war ich«, schreibt er, »dass ich der Majestät des Papstes trotzte, vor der die Könige der Erde und die ganze Welt zitterten? Niemand kann ermessen, was ich während der ersten beiden Jahre durchmachte und wie niedergeschlagen, ja verzweifelt ich war.«
Doch er sollte den Mut nicht völlig verlieren. Als Menschen ihn im Stich ließen, schaute er allein auf Gott und erlebte: Man konnte sich völlig auf den allmächtigen Arm stützen. Unbeirrt arbeitete der Reformator daran, den Müll abzutragen, unter dem der wahre Glaube schon Jahrhunderte begraben lag. Der Staub uralter Irrtümer trübte ihm manchmal selbst den Blick. Dann konnte er die Wahrheit nicht glasklar erkennen; aber als er entschlossen voranging, brachen Lichtstrahlen aus Gottes Wort hervor und vertrieben die Finsternis des Aberglaubens. Sie erfüllten seine Seele mit dem Glanz eines reineren und heiligeren Glaubens. Da stand er aus seiner Verzagtheit wieder auf, und sein Mut, seine Hoffnung erwachten zu neuem Leben. Schon bald sammelten sich Freunde um ihn. Aber ihm war ständig bewusst, wer seine Kraftquelle ist.
Vertrauen ist der Schlüssel
An Spalatin, den Hofkaplan des Kurfürsten und Freund der Reformation, schrieb Luther: »Wir können die Schrift weder durch Studium noch durch Vernunft begreifen. Zuerst gilt es zu beten. Flehe den HERRN an, dass er dir aus seiner großen Barmherzigkeit das richtige Verständnis seines Wortes schenkt! Niemand kann Gottes Wort auslegen als allein der Urheber dieses Wortes. Er selbst hat gesagt: ›Sie werden alle von Gott gelehrt sein.‹ (Johannes 6,45) Erhoffe dir nichts von deinen eigenen Bemühungen, von deinem eigenen Verständnis: Vertraue allein auf Gott und den Einfluss seines Geistes. Glaub daran, weil ein Mann dir das schreibt, der Erfahrung hat.«
Hier sehen wir, auf welche Weise Luther in den Besitz der Wahrheit kam, die die Reformation auslöste. Männer der Demut und des Gebets gelangen zu einer tiefen Erkenntnis der Heiligen Schrift (Apostelgeschichte 18,24). Sie durchsuchen das Wort der Wahrheit wie nach verborgenen Schätzen. Während sie lesen und beten, beten und lesen, wird aus ihnen ein lebendiger Lichtleiter und Wahrheitskanal.
Diese Erkenntnis ist von entscheidender Wichtigkeit für alle, die sich von Gott berufen fühlen, anderen die ernsten Wahrheiten für die heutige Zeit zu bringen. Denn diese Wahrheiten werden die Feindschaft Satans und aller Menschen wecken, die seinen erfundenen Märchen glauben. In der Auseinandersetzung mit diesen bösen Mächten bedarf es mehr als nur intellektueller Kraft und menschlicher Weisheit.
Debatte zwischen Luther und Tetzel
In seiner Wut gegen Luther beantwortete Tetzel die Thesen mit Antithesen, in denen er versuchte, die Ablasslehre zu verteidigen und die Macht des Papstes zu stützen. Luther ließ sich mit großer Freude auf die Auseinandersetzung ein. Denn er hoffte, dass die Wahrheit, die ihm so viel bedeutete, dadurch vielen offenbar würde. »Wundere dich nicht darüber«, schrieb er einem Freund, »dass sie mich so schonungslos beschimpfen. Ich höre ihr Geschimpfe gerne. Wenn sie mich nicht verfluchten, wäre ich nicht so sicher, dass mein Unterfangen Gottes Werk ist.« Dennoch war Luther ein Freund des Friedens. Er besaß ein sensibles, mitfühlendes Herz. Wenn Gottes Geist ihn drängte, die Wahrheit zu verteidigen, schreckte er davor zurück, Unfriede in Kirche oder Staat zu verursachen. »Ich zittere, ich schaudere«, sagte er, »bei dem Gedanken, dass ich der Anlass für Uneinigkeit unter solch mächtigen Fürsten sein könnte.«
Luther verteidigte mit edler Standhaftigkeit das Evangelium, und seine Lehren verbreiteten sich. Priester und Laien scharten sich um ihn als ihren Vorkämpfer. Obwohl es ihnen nicht leicht fiel, ihre Meinungen zu ändern, vertrieb das Licht der Wahrheit dennoch die Finsternis des Irrtums. Einige, die sich insgeheim über die Sache freuten, nahmen anfangs nicht aktiv an ihr teil; doch der erbitterte Widerstand gegen Luther und die von ihm gepredigte Wahrheit zog auch diese Personen an die Front und verwandelte ihre Restzweifel in festen Glauben. Der HERR schenkte den Herzen derer, die sein Wort befolgen wollten, eine unbeirrbare Standhaftigkeit und Entschlossenheit.
Debatte zwischen Luther und Prierias
Satan arbeitete unaufhörlich daran, alles einzureißen, was Gott von seinen Dienern aufbauen ließ. Einer der fähigsten Agenten des Feindes war Prierias, Meister des päpstlichen Palastes, der auch das Amt des Zensors innehatte. Die führenden Männer der Katholischen Kirche hatten geteilte Ansichten darüber, wer die Heilige Schrift auslegen darf. Ein Teil von ihnen glaubte, dass die Konzilien die Vollmacht haben, weil sie die Kirche repräsentieren; ein anderer Teil hielt eisern daran fest, dass allein der Papst die Auslegungsbefugnis habe, daher dürfe niemand die Heilige Schrift gegen seine Dekrete auslegen. Prierias gehörte zu den eifrigsten Unterstützern des Papstes. »Wer die Lehren der römischen Kirche und des römischen Papstes nicht annimmt und zu seiner Grundlage macht, und zwar als unfehlbare Richtschnur des Glaubens und als vollmächtige, von der Bibel gestützte Verpflichtung, der ist ein Ketzer.« So sprach der stolze Prierias und attackierte Luther weiter im Geist eines Bajazzos und Inquisitors, statt eines ruhigen, würdigen Verteidigers der Kirche Christi.
Luther trat seinem Opponenten mit derselben furchtlosen Standhaftigkeit entgegen, die er auch anderen Widersachern zeigte. Er hatte sich in den Dienst der Wahrheit gestellt. So schenkte der Geist der Wahrheit ihm Weisheit, Kraft und Verständnis. Prierias hatte seine Schrift begonnen, indem er bestimmte Prinzipien darlegte. »Eurem Beispiel folgend«, sagte Luther, »werde auch ich bestimmte Prinzipien darlegen. Das erste ist die Aussage des Sankt Paulus: ›Selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch etwas anderes als Evangelium verkündigen würden als das, was wir euch verkündigt haben, der sei verflucht!‹ Das zweite Prinzip stammt von Sankt Augustinus: ›Ich habe gelernt, fest daran zu glauben, dass allein die inspirierte Heilige Schrift unfehlbar ist. Andere Schriften, auch wenn sie Wahrheit enthalten, haben für mich nicht dieselbe Autorität.«
Luther fügte hinzu: »Wenn Ihr diese Prinzipien richtig versteht, werdet Ihr auch begreifen, dass Euer ganzer Dialog überholt ist.« Auf die Unterstellungen und Drohungen des Prierias antwortete er mit diesen mutigen Worten: »Seid Ihr blutdürstig? Ich beteure, dass diese Drohungen mich nicht im Geringsten beunruhigen. Was wäre, wenn ich mein Leben verlöre? Dann lebte Jesus immer noch; Jesus mein Herr, und der Herr aller, gelobt in Ewigkeit.«
Man sollte bedenken: Luther griff mit gezielten Schlägen eine jahrhundertealte Einrichtung an. Dies war nicht möglich, ohne Hass und Widerstand zu wecken. Keine Argumente gegen ihn konnten ihn von Gottes Wort abbringen; denn seine Füße standen fest auf dem Fundament der Propheten und Apostel, in dem Jesus selbst der Eckstein war.
Todesgefahr und Gottesschutz
Wenn Feinde sich auf Bräuche und Traditionen beriefen oder auf die Behauptungen und die Autorität des Papstes, begegnete ihnen Luther mit der Bibel und mit der Bibel allein. Diesen Argumenten konnten sie nichts entgegnen. Daher schrien die Sklaven des Formalismus und des Aberglaubens nach seinem Blut wie die Juden Jahrhunderte zuvor nach dem Blut Jesu.
»Er ist ein Ketzer«, schrien die römischen Zeloten. »Es ist Hochverrat gegen die Kirche, einen so fürchterlichen Ketzer nur eine Stunde länger am Leben zu lassen! Richtet sofort das Schafott für ihn auf!« Doch Luther fiel ihrem Zorn nicht zum Opfer. Gott hatte noch eine Aufgabe für ihn, und Engel des Himmels wurden gesandt, um ihn zu beschützen. Aber viele, die von Luther das kostbare Licht empfangen hatten, wurden zur Zielscheibe von Satans Wut und erlitten um der Wahrheit willen furchtlos Folter und Tod.
Alle, die Gott einsetzt, um sein Werk der gegenwärtigen Wahrheit voranzubringen, müssen mit Widerstand rechnen. Die Kontroverse zwischen Christus und Satan wird zum Ende dieser Weltgeschichte hin noch intensiver werden. Wer es wagt, Wahrheiten zu bringen, die mit den Volkskirchen und der Welt kollidieren, wird zur Zielscheibe von Verleumdung, Kritik und Lüge werden. Viele, die anfangs nur wenig mit den Spöttern sympathisieren, werden sich schließlich Satan ganz hingeben, um allem zu widerstehen und alles zu Fall zu bringen, was Gott aufbauen möchte.
Theorien und Traditionen oder Gottes Wort?
Heute herrscht dieselbe Neigung vor wie zur Zeit von Jesus, Paulus oder Luther: Man ersetzt Gottes Wort durch menschliche Theorien und Traditionen. Die Geistlichen bringen Lehren vor, die nicht auf den Schriften der Wahrheit fußen. Statt biblischen Beweisen präsentieren sie ihre eigenen Behauptungen als Autorität. Das Volk akzeptiert die Wortauslegung der Geistlichen, ohne ernsthaft um Erkenntnis der Wahrheit zu beten. Doch man kann sich nicht bedenkenlos auf menschliche Weisheit und Beurteilung verlassen. Unser Retter sagte: »Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind’s, die von mir zeugen.« (Johannes 5,39 LU)
Alle vernunftbegabten Wesen können die Wahrheit selbst herausfinden. Wer betet und nach Erkenntnis sucht, wird Erkenntnis finden. Viele tasten deshalb im Nebel des Irrtums hilflos umher, weil sie sich auf menschliche Behauptungen verlassen, statt auf Gottes Wort. »›Zum Gesetz und zum Zeugnis!‹ — wenn sie nicht so sprechen, gibt es für sie kein Morgenrot.« (Jesaja 8,20) Weltmenschen und oberflächliche Christen lassen sich auf nichts ein, was ihrer selbstsüchtigen Genussliebe im Weg steht. Daher gehen sie bereitwillig über die Wahrheit hinweg, die ihr Leben retten würde. Satan wirkt mit all seiner Täuschungskunst daran, den Leuten wohlklingende Märchen zu erzählen. Tausende gehen ihm in die Falle.
Mit Widerstand rechnen
Die Verfechter der Wahrheit dürfen in unserer Zeit nicht erwarten, dass man ihre Botschaft begeisterter aufnehmen wird als die der frühen Reformatoren. Nein, sie müssen mit größeren Schwierigkeiten rechnen und mit stärkerem Widerstand als Luther und seine Kollegen. Satans Hass gegen die Wahrheit hat sich in all den Jahrhunderten nicht geändert. Doch er sieht, dass seine Zeit abläuft. Deshalb macht er eine letzte gewaltige Anstrengung, um durch Zeichen und Lügenwunder nicht nur die ungläubige Welt zu täuschen und zu vernichten, sondern auch die große Masse der Namenschristen, die die Wahrheitsliebe nicht angenommen haben, durch die sie gerettet werden könnten. Im zweiten Brief an die Thessalonicher erklärt Paulus, dass Jesu Wiederkunft »das Wirken Satans mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern« vorausgehen wird, »und mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden. Denn sie haben die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen, dass sie gerettet würden. Und darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, dass sie der Lüge glauben, auf dass gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit.« (2. Thessalonicher 2,9-12)
Auch in den Tagen von Jesus, Paulus und Luther gab es eine gegenwärtige Wahrheit – eine Wahrheit, die zu ihrer Zeit von besonderer Bedeutung war. Doch die Menschen von heute sind genauso wenig an der Wahrheit interessiert wie damals die Juden zur Zeit Jesu oder die Papstanhänger zur Zeit Luthers. Darum hat Satan, der heute mit zehnfacher Macht wirkt, genauso viel Erfolg wie damals, wenn er den Menschen Sand in die Augen streut und ihr Verständnis verfinstert.
Wenn alle, die heute für die Sache der Reformation wirken, Konflikte erleben und vor Problemen stehen, wenn ihr Weg von Schwierigkeiten gesäumt ist und der Müll des Irrtums ihnen den Weg versperrt, dann sollten sie daran denken, dass sie auf demselben Weg reisen, den schon die Propheten, Apostel und Reformatoren aller Zeitalter genommen haben. Jesus beschritt sogar einen dornigeren Weg als alle seine Nachfolger. Sie dürfen sich mit dem Gedanken trösten, dass sie in guter Gesellschaft sind. Einer, der mächtiger ist als Satan, ist ihr Oberhaupt. Er wird ihnen Kraft geben, damit sie im Glauben fest bleiben. Er wird ihnen den Sieg schenken.
Signs of the Times, 21. Juni 1883
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