Mit Gott reden wie mit einem Freund. Ein Appetithäppchen aus der dritten Ausgabe der Zeitschrift hoffnung heute. Von Johanna Blanck
»Bären?!« Mit großen Augen schaute ich meinen Studienkollegen an. »Ja! Echte Bären gibt es dort in Rumänien!« Das war das Stichwort. In meinem Bauch begann es vor Aufregung zu kribbeln. Meine Entscheidung stand nun fest. Ich wollte nach Rumänien!
Viele Wochen lang waren wir Studenten am Grübeln, wo wir unser dreiwöchiges Praktikum machen wollten. Ach, es gab so viele Möglichkeiten! Wie sollte ich mich da nur entscheiden? Ich hatte mich schon fast festgelegt, als ein Studienkollege mit einer neuen Idee ins Zimmer stürmte: »Johanna, willst du mit nach Rumänien kommen?« »Rumänien?«, warf ich fragend zurück. »Ja, dort gibt es eine Gesundheitseinrichtung, mitten in einer wunderschönen Landschaft.« Eigentlich war ich nicht besonders interessiert, aber das störte meinen Kameraden gar nicht, und es sprudelte weiter begeistert aus ihm raus: »Nicht nur ein Gesundheitszentrum, auch eine Schule gehört dazu. Gleich daneben gibt es einen riesigen Garten. Stell dir vor, was wir da alles machen und lernen können! Außerdem sollen die Rumänen erstklassige Köche sein. Und Bären gibt es in Rumänien auch!« Das Wort »Bären« traf mich wie ein Blitz. Plötzlich saß ich kerzengerade auf meinem Stuhl. Hatte ich gerade »Bären« gehört?!
Ab nach Rumänien
Die Wochen vergingen. Dann war er da, der Tag unserer Abreise. Das Flugzeug hob ab. Höher und höher schwebte unsere Maschine. Die Menschen und Häuser unter uns wurden immer kleiner und kleiner. Nervös rutschte ich auf meinem Platz hin und her. Wie wird es wohl in Rumänien sein?
»Schau, jetzt fliegen wir über Rumänien«, rief mein Kollege und zeigte nach draußen. Im Flugzeug sind die Fenster nicht so groß wie im Zug. Nicht mal mit einem Backofenfenster können sie es aufnehmen. Gerade mal zwei Waschlappen messen sie. So konnten wir nicht gemeinsam hinausspähen und drängelten uns an der kleinen Fensterluke, um etwas von dem fremden Land zu begutachten. Weit und breit war kein Dorf zu sehen, nicht mal ein Haus. Die Landschaft wellte sich wie Dünen am Strand auf und nieder. Sie waren bedeckt von saftigen Wiesen und dunklen, weiten Wäldern.
Entzückt beim Anblick dieser schönen Natur flüsterte ich leise: »Lieber Vater, wenn du mich jeden Morgen ganz früh weckst, dann können wir immer einen Morgenspaziergang durch die Wälder und über die Wiesen machen. Und du kannst mir von dir erzählen und mich aus deinem Buch der Natur lehren.« Ich erinnerte mich nämlich an einen Vers in der Bibel, indem es heißt, dass Gott uns mit allem, was er gemacht hat, etwas von sich erzählen möchte (Römer 1,20).
Glaubst du, Gott hat meine Bitte erhört? Und ob er das tat! Er liebt es, wenn wir Zeit mit ihm verbringen. Jeden Morgen ließ er sich etwas Neues einfallen, um mich zu wecken. Mal tat er es mit dem lustigen Flöten eines Vogels, mal strich er mir mit dem sanften Morgenwind, der durch die offene Balkontür hereinströmte, übers Gesicht. Leise glitt ich dann aus dem Bett, schlüpfte in meine Anziehsachen und pirschte mich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Morgenspaziergang
Die lange Holztreppe im Flur knarrte. Ich blieb stehen und lauschte. Nein, alles war ruhig. Ich fühlte mich wie auf geheimer Mission. Keiner durfte etwas mitbekommen. Dabei wollte ich die andern nur nicht in ihrem Schlaf stören. Sanft drückte ich die Türklinke zu. Geschafft! Tief atmete ich die kühle Morgenluft ein.
Der Weg in den Wald führte mich vorbei am Schulgebäude, einigen Wohnhäusern, dem Sanatorium und zuletzt an dem Gemeindehaus. In wenigen Stunden sollten hier viele Leute zum Gottesdienst zusammenströmen. Aber jetzt war alles noch totenstill.
Hinter dem Gemeindegebäude türmte sich der Wald auf. Hohe Buchen, knochige Eichen. Hier und da guckten ihre dicken Wurzeln aus dem Erdboden hervor. Munter hüpfte ich von einer zur nächsten und versuchte, nicht auf den Boden zu kommen. Eine Gruppe schwarzlackierter Käfer kreuzte meinen Pfad: Mistkäfer. Schwer beschäftigt waren sie dabei, einen Haufen Pferdeäpfel »aufzuräumen«. Geschickt formten sie kleine Kugeln aus dem Mist und rollten sie dann in Erdlöcher. Schwuppdiwupp waren sie verschwunden. Toll, dachte ich, selbst an fleißige Straßenfeger hat Gott bei seiner Schöpfung gedacht. Gott scheint Ordnung zu mögen!
Weiter schlich ich den Waldhang hinauf. Ich kniff die Augen zusammen, um in der Dämmerung besser sehen zu können. Doch heute wollten meine Augen nichts Aufregendes entdecken. Kein Reh, keinen Fuchs, nichts. Es war still. Komisch, in den letzten Tagen waren so viel Rehe und andere Tiere zu sehen, und heute? Nichts. Schade, gerade heute am Sabbat hatte ich gehofft, besonders viele zu sehen.
Da fiel mir etwas ein. Hatte mein Freund nicht behauptet, in Rumänien gäbe es Bären? Begeistert rief ich: »Bären! Stimmt, dass hatte ich ja schon fast vergessen. Ach ja, lieber Vater, du hast mir in den letzten Tagen schon so viele Tiere gezeigt, aber noch gar keinen Bären! Das müssen eindrucksvolle Geschöpfe von dir sein!« Ich ging ein paar Schritte weiter, dann hielt ich inne. »Du kannst doch alles, kannst du mir da nicht mal einen Bären rufen, der mir über den Weg läuft?« Kaum hatte ich das gesagt, musste ich über mich selbst lachen. Wie konnte ich Gott denn so etwas bitten? Ich glaubte doch selbst nicht einmal daran, dass es hier wirklich Bären gab. Und wenn doch, dann irgendwo in den Bergen, weitab von jeglicher Zivilisation. Sonst würde ich hier doch nicht in aller Ruhe allein durch den Wald schlendern.
Bisher konnte ich den Wald weit durchblicken. Doch jetzt änderte sich das Bild. Mein breiter Weg engte sich zu einem schmalen Pfad. Zwischen den Eichen wuchs viel Gestrüpp, und hohe Pflanzen machten sich breit. Rechts türmten sich große Hecken von Hagebutten und Brombeeren auf. Die gute Sicht war nun auf wenige Meter um mich herum beschränkt. »Das ist ja wie im Dschungel«, protestierte ich und kämpfte mich durch Äste und Blätter, die mir den Weg versperren wollten. Arme wedelnd versuchte ich ein Haufen Blätter loszuwerden, die sich mit meinem Pulli angefreundet hatten.
Erste Begegnung
Da hörte ich etwas! Es kam von links. Hinter den Büschen ging es einen Hang hinunter. Ich konnte nicht hinuntersehen; die Pflanzen hatten alles zugewachsen. Im ersten Moment schien es noch weit weg. Doch in nächster Sekunde war es auch schon ganz unheimlich nah. Äste knackten. Erde rutschte. Etwas schnaufte tief. Ein Reh? Vielleicht sogar ein Hirsch?
Voller Freude sprang ich hinter den nächstbesten Baum. Dann hatte ich meine Kamera also doch nicht umsonst mitgeschleppt. In letzter Sekunde richtete ich die Linse auf den Weg. Zwei Schritte vor mir brach aus dem Dickicht ein gewaltiges Tier heraus. Mit seinen großen Pranken stürmte es über meinen Weg und war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war.
Wie angewurzelt stand ich hinter meinem Baum. Mein Kinnladen war mir vor Schreck fast bis auf die Brust gefallen. Meine Finger zitterten und meine Augen hatte ich so weit aufgerissen, dass es mich wundert, dass sie nicht rausgefallen waren. Das war kein Reh gewesen, auch kein Hirsch. Nein, das war definitiv ein Bär, ein Braunbär! Angespannt lauschte ich in die Richtung, in die er verschwunden war. Er würde doch nicht nochmal zurückkommen? Ängstlich lauschte ich in den Wald – Stille.
Dann rannte ich los. Und wie ich rannte! Ich wusste gar nicht, das meine Beine so schnell rennen konnten. Die zwei Kilometer bis zum Waldrand lagen innerhalb von Sekunden hinter mir. Ich stürmte ins Haus, drückte die Tür zu und atmetet tief ein und aus. Mein Herz pochte noch immer wie im Galopp. Nein, in den Wald gehe ich nie wieder! Das war’s mit Morgenspaziergängen! »Aber du wolltest doch gerne einen Bären sehen!«, hörte ich plötzlich eine sanfte Stimme in mir. »Ja schon, aber eigentlich habe ich das doch nur im Spaß gesagt«, konterte ich. Da wurde mir auf einmal bewusst, dass Gott uns hört und ernst nimmt. »Nun gut«, sagte ich, »das nächste Mal überlege ich mir besser, was ich sage!« Aber in den Wald wollte ich trotzdem nie mehr gehen …
Gott hört Gebet
Es waren noch keine zwei Tage vergangen, da dachte ich schon wieder ganz anders. Es war Schlafenszeit. Aber mein Kopf wollte noch nicht schlafen. Grübelnd lag ich in meinem Bett. Meine Angst war längst über alle Berge. Vor meinen Augen tauchte immer wieder meine Kamera auf. »Schade«, dachte ich. »Da hatte ich schon mal einen echten Bären vor meiner Nase und sogar meine Kamera dabei, aber habe ganz vergessen, ihn zu fotografieren! Lieber Vater, der Bär war einfach zu schnell! Ich hatte gar keine Gelegenheit für ein Erinnerungsfoto, und anschauen konnte ich ihn mir in der Eile auch nicht. Kannst du ihn mir nicht noch einmal zeigen, aber diesmal länger und, wenn es geht, mit mehr Sicherheitsabstand?«
Der nächste Morgen war nebelig. Eine Wolkendecke verhüllte den Himmel, sodass es nicht so hell war wie sonst. Als ich den üblichen Waldweg rechts einschlagen wollte, stoppte mich eine innere Stimme: »Geh den linken Weg!« Das war der Weg, auf dem ich sonst immer wieder zurückkam.
»Na gut, wenn du meinst«, sagte ich, ohne zu hinterfragen, und änderte meinen Kurs. Ich war noch gar nicht lange unterwegs, da regte sich etwas. Circa 200 m vor mir, ja, dort hinter dem Baum – der Bär! Mein ganzer Mut, den ich bis dahin hatte, war plötzlich weg. Die Aufregung machte sich wieder in mir breit. Aber nein, ich konnte jetzt nicht zurück, ich wollte doch ein Bild! Außerdem wäre Wegrennen jetzt absolut verkehrt. Mein Papa hatte mir immer eingeschärft: »Wenn ein Bär kommt, stell dich dicht an einen Baum und bewege dich nicht! Bären sehen nämlich ganz schlecht und denken dann, du seist auch ein Baum. Und auf keinen Fall wegrennen! Der Bär ist immer schneller!“ Dass ich diesen Rat jemals gebrauchen könnte, hatte ich nie vermutet.
Doch nun stand ich da, an einen Baum gedrückt, so dicht ich nur konnte. Am liebsten wäre ich in den Baum hineingekrochen. Aber das ging ja nicht. Und so machte ich das, worum ich Gott gebeten hatte: Fotos. In meiner Nervosität verlor ich den Bären ständig aus meinem Blickfeld durch die Kamera. Suchend schaute ich auf. Doch er war weg! Wo war er nur hin?
Neugierig trat ich aus meinem Deckungsfeld hervor. »Da muss ich doch mal nachschauen«, dachte ich mir. Aber sofort hörte ich in mir ein eindringliches: »Stopp, nein, geh zurück!« »Aber Vater«, sagte ich, »er ist nicht mehr da!« »Geh zurück!« »Aber ich sehe ihn gar nicht!« »Geh zurück!« »Aber wo ist er denn hin?«
Meine Neugier war zu groß, als dass ich auf die Stimme hören wollte. Unvorsichtig lief ich den Weg einfach weiter. Mit zusammengekniffenen Augen durchforschte ich den Wald. Doch da waren nur Bäume, Bäume, eine umgefallene Baumwurzel, Büsche und wieder Bäume. Ich lief noch ein Stückchen weiter, um besser sehen zu können. Das Licht war an diesem Morgen einfach noch nicht hell genug. Auf einmal änderte sich etwas in meinem Bild, und ich wünschte mir augenblicklich, der Stimme gehorcht zu haben. Die Baumwurzel wurde lebendig und richtete sich auf! Der Bär hatte sich hingelegt, und ich hatte ihn für eine Baumwurzel gehalten! Es waren noch ungefähr 50 Schritte, aber das war nicht viel, wenn ich daran dachte, wie schnell er beim ersten Mal war, als ich ihn rennen sah. Ehrfurchtsvoll blickte er um sich. Ich konnte ihn jetzt auch sehr gut erkennen. Leider ähnelte er nur sehr wenig meinem kleinen Kuschelteddy von früher. Nein, der hier war groß, kräftig, und er hatte etwas gewittert! »Lieber Vater«, stotterte ich, »bitte, bitte verzeih mir, dass ich nicht gleich auf dich gehört habe. Ich verspreche dir, das nächste Mal sofort zu gehorchen, aber jetzt musst du mir unbedingt helfen!« Da legte sich der Bär wieder hin. Schritt für Schritt legte ich im Schneckentempo den Rückwärtsgang ein. »Nur keine hektische Bewegung«, dachte ich. Es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich zur Kurve gelangte. Nur noch ein paar Meter, dann war ich aus seinem Blickfeld verschwunden. Endlich! Ich drehte mich um und rannte aus dem Wald.
Später fiel mir ein, dass Gott mich den linken Weg geschickt hatte. Wäre ich rechts herum gelaufen, wäre ich von oben gekommen und hätte direkt am Bär vorbeigehen müssen. Wie froh war ich, wenigstens da ohne Widerrede auf Gott gehört zu haben.
Das Badezimmer
Ist es nicht großartig, dass Gott zu uns spricht und uns beschützt? Ich war unglaublich dankbar dafür. Aber alleine wollte ich nun wirklich nicht mehr in den Wald. Nur noch mit andern zusammen, wie an einem Sabbatnachmittag, als wir mit einer kleinen Gruppe einen Sabbatspaziergang machten. Wir kamen auch an der Stelle vorbei, wo ich den Bär beim zweiten Mal gesehen hatte. Ich entdeckte, dass das wohl sein Badezimmer sein musste. Große Fußtapfen waren um ein Wasserloch zu finden. Meine Hände hätten fast dreimal der Länge nach hineingepasst. Und an den Bäumen klebte überall Schlamm. Da hatte er sich wohl seinen Rücken gebürstet.
Ein besonderer Abschied
Es war an einem anderen Morgen. Ein Vogel pfiff mich mit seinem fröhlichen Lied wach. Heute sollte unser letzter Tag in Rumänien sein. Morgen früh, ganz zeitig, würde unser Flugzeug starten. Ich beschloss meine Andacht am Waldrand zu machen. Nicht im Wald! Nur am Rand. Ich suchte mir ein Plätzchen auf einem langen Baumstamm. Um mich herum schwirrte eine Biene. Die Sonne strahlte heute wunderschön in den Wald hinein und färbte das Laub ganz golden. Die Mücken tanzten im Licht auf und ab. Ein Vogel schwebte elegant zwischen den Bäumen hindurch. »Wie wunderschön lieber Vater«, staunte ich. »da fehlte es nur noch, dass der Bär jetzt in seiner majestätischen Pracht durch die Blätter tapst.« Und wisst ihr was? Unser Gott hört jeden unserer Gedanken, und er liebt uns so sehr, dass er uns gerne eine Freude macht. Ich schaute hoch zum Wald. Da war er! Ganz gemütlich trottete er von links nach rechts den Waldrand entlang, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte …
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