Vom Soldaten zum Pastor: Gott riss das Steuer herum

Vom Soldaten zum Pastor: Gott riss das Steuer herum

»Ich will ihn sättigen mit langem Leben.« (Psalm 91,16) von Georg Huntzinger

Vor mehr als 96 Jahren, am 12. November 1923, erblickte ich in einem kleinen Dorf in den Vogesen (Elsass, damals Frankreich) das Licht der Welt. Ich galt als missratener Sohn meiner Eltern. Sie sagten oft: »Man würde nicht meinen, dass du unser Sohn bist.« Ja, ich war etwas anders als die Menschen in unserem Ort.

Wirtshäuser und Kartenspielen interessierten mich nicht. Lieber wollte ich in der Natur frei leben, etwa bei einem Indianerstamm in Kanada oder in Brasilien. Aber es kam anders. Ich erlernte den Beruf eines Webers. Während meines 17. Lebensjahres wurde das Elsass von Deutschland annektiert. Zu dieser Zeit erhielt ich die Gelegenheit, Hitlers Buch Mein Kampf und andere NS-Schriften zu lesen. Dieser Hitler kam mir verdächtig vor. Mein Fazit war, dass das Tausendjährige Reich in einer Katastrophe enden würde. Die Arier als Herren der Welt und alle anderen als Sklaven – wie bei den Spartanern – konnte ich mir nicht vorstellen.

Mit 18 Jahren wurde ich nach einer intensiven militärischen Ausbildung zur Deutschen Wehrmacht eingezogen. Ich wurde einem Jägerregiment zugeteilt (sMG – schwere Maschinengewehre) und wir wurden an die Front nach Russland beordert. Dort ging es grausam zu.

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Im Schützenloch

Eines Tages kauerten ein Kamerad und ich in einem Schützenloch. Plötzlich rollte er zur Seite. Er war von einem Granatsplitter direkt am Kopf getroffen worden. Sein Helm hatte ihn nicht schützen können – er war sofort tot. Da lag ich nun allein und dachte: »Das wird auch dein Schicksal sein!«

Hitler wollte Leningrad (heute St. Petersburg) aushungern lassen. Unser Jägerregiment war in mehreren Abschnitten rund um die Stadt eingesetzt. Sumpf, Mücken, Hitze und Kälte waren unsere ständigen Begleiter. Eines Tages erwischte es auch mich. Durch eine Granate wurde ich schwer verwundet. Zwei Männer starben bei diesem Angriff. Nach einem Lazarettaufenthalt und einem kurzen Urlaub landete ich wieder an der Front. Die erste Woche erschien grausam, denn ich musste mich wieder ans Leiden und Sterben gewöhnen. Die Erinnerung an ein Trommelfeuer jagt mir noch heute Angst ein. Ich lag im Granatenhagel und hatte das Gefühl, dass mein Leben jeden Moment ausgelöscht werden würde.

Wer wird diesen Krieg gewinnen?

1945 kam der Rückzug aus Russland, über Polen und Ostpreußen. Noch in Russland, an der Grenze zu Ostpreußen, ließ ich gegenüber meinen Kameraden die Bemerkung fallen, dass Hitler diesen Krieg nicht gewinnen werde. Schon am selben Abend wurde ich vor ein Kriegsgericht gestellt. Am Ende des Verhörs wurde ich gefragt: »Wer wird diesen Krieg gewinnen?« Alle wussten, was man darauf sagen musste. Jedoch hörte ich mich antworten: »Die Russen und die Amerikaner.« Der Hauptmann erwiderte: »Wissen Sie, dass Sie mit Ihrem Leben spielen?« Ich dachte mir: »Nun hast du das ganze Schlamassel überlebt, und jetzt das.« Aber Gott hatte alles so geführt. Meine Aussage, die eigentlich meinen Tod bedeutete, wurde mir zur Rettung.

Ich musste mein Regiment verlassen und wurde mit meinem versiegelten Wehrpass zu einer besonderen Kompanie geschickt. Dort sollte ich mit zwei Ukrainern Fahrdienst leisten. Auf dem Weg dorthin beschlich mich ein ungutes Gefühl und ich riss den versiegelten Wehrpass auf. Darin las ich: »Politisch unzuverlässig – Dienst in der Bewährungskompanie«. Nun bekam ich es mit der Angst zu tun, denn ich wusste, dass dies ein Himmelfahrtskommando war: Kanonenfutter für die anrückenden Russen. »Da geh ich nicht hin!« Ich entschloss mich zu desertieren. Damals war ich mir der Tragweite dieser Entscheidung aber noch nicht bewusst.

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Auf der Flucht nach Paris

Ich kannte mich in Ostpreußen nicht aus und wusste nicht, wo die Front verlief. Es war ein kalter, schneereicher Winter. Obwohl ich damals noch ungläubig war, führte Gott meinen Weg. Ohne seine Führung hätte ich die Flucht nicht geschafft. Zu dieser Zeit verließen viele deutsche Zivilisten Ostpreußen. Ich schloss mich den Flüchtenden an und half ihnen beim täglichen Beladen der Pferdewagen. Des Öfteren wurden wir aus dem Schlaf gerissen und mussten mit allem, was wir in Eile auf den Wagen verstauen konnten, mit Frauen und Kindern vor den anrückenden Russen fliehen. Nach vielen dramatischen Erlebnissen landete ich in Braunsberg (Ostpreußen, heutig: Braniewo). In dieser Stadt lernte ich zwei französische Kriegsgefangene kennen, die mir halfen, ein »französischer Kriegsgefangener« zu werden.

Als ich einmal unterwegs war, um Wasser zu holen, kam die Feldgendarmerie, verhörte alle Gefangenen und überprüfte alle Dokumente. Wenn sie mich erwischt hätten, wäre das mein Ende gewesen. Meine Kameraden meinten: »Du hast großes Glück gehabt, dass du nicht hier warst.« Heute weiß ich, dass Gott mich beschützt hatte.

Dann folgte der letzte Abschnitt der Flucht. Dabei kamen wir mitten in die Kämpfe zwischen Russen und Deutschen. Aber auch diesmal kam ich wieder heil davon und landete bei den Russen. Anschließend ging es in den Westen bis Paris. Dort erhielt ich als »französischer Kriegsgefangener« eine kleine Summe Geld und konnte nach Hause fahren.

Selbstmordgedanken

Ich hatte keine Lust, mein altes Leben wieder aufzunehmen. Nachdem ich acht Tage zu Hause war, fasste ich den Entschluss, bei der Fremdenlegion anzuheuern und nach Nordafrika zu gehen. Dieser Plan ging nicht auf, wofür ich dankbar bin, sonst wäre ich gleich im nächsten Krieg gelandet – in Indochina. Nach all diesen Traumata wurde das Dasein für mich unerträglich und sinnlos. Dreieinhalb Jahre hatte ich als Soldat verbracht. Nun besaß ich nichts und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. So beschloss ich, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Kurz nach dem Entschluss, mir das Leben zu nehmen, griff Gott wunderbar ein. In meinem Dorf fragte ich einen Schneider, ob er denn nicht etwas zu lesen hätte. Er gab mir das Buch In den Fußspuren des großen Arztes. Dieses Buch beeindruckte mich sehr und so begann ich, auch in der Bibel zu lesen. »Jetzt liest er auch noch die Bibel«, stöhnte mein Vater, der in seinem ganzen Leben nicht ein Buch in Händen gehalten hatte. Ich fand auch einige adventistische Missionsschriften, in denen Berichte über fremde Völker abgedruckt waren. Das erregte mein Interesse.

Die Adventisten

Die Siebenten-Tags-Adventisten kannte ich nicht, da ich religiös völlig ungebildet war. Wieder half Gott nach, indem er ein junges adventistisches Ehepaar in unser Dorf schickte, das bei meiner Tante wohnte. Ich kam mit den Leuten in Kontakt und lernte die Adventgemeinde kennen. Nun begann für mich eine schwierige Zeit. Am Sabbat, wenn alle in dem kleinen Dorf zur Arbeit gingen, war ich auf dem Weg in die Adventgemeinde. Ich erinnere mich noch heute, wie ich mich damals als Sonderling gefühlt habe. Keine Waldarbeit, kein Mähen, kein Heuwenden am Sabbat. Dabei war meine Familie auf mich angewiesen, weil ich ihre einzige Hilfe war. Bald merkte ich, dass es so nicht weitergehen konnte. »Ich muss hier raus, etwas unternehmen. Aber was?«, überlegte ich. Plötzlich verspürte ich den inneren Drang, ein Seminar zu besuchen und Prediger zu werden. Gottes Geist muss mächtig gewirkt haben, denn wieder zur Schule zu gehen, wäre das Letzte gewesen, was ich mir ausgesucht hätte.

Ausbildung zum Pastor

In diesem Jahr fand der Weltjugendkongress in Paris statt. Dort informierte ich mich über die theologischen Ausbildungsstätten in Collonges (F), auf der Marienhöhe (D) und in Bogenhofen (A). »Ja, es gibt in Collonges Möglichkeiten für Spätzünder!« Drei Jahre müsste ich lernen. Dann stellte sich noch die Frage wegen des Schulgeldes. Ich hatte niemanden, der mich unterstützte. Man sagte mir, dass es möglich sei, durch die Buchevangelisation das Schulgeld zu verdienen. Auch das noch – ich mit Büchern von Tür zu Tür gehen – ein Ding der Unmöglichkeit! Völlig niedergeschlagen kam ich nach Hause. Aber der Heilige Geist ließ mir keine Ruhe, bis ich endlich einwilligte: »Dein Wille geschehe!« Ich ging los, ohne zu wissen, was mich erwarten würde.

Eine körperlich anstrengende Zeit kam auf mich zu. Für die Buchevangelisation wurde mir in Frankreich ein großes Gebiet mit mehreren Städten zugeteilt. Dabei musste ich oft große Distanzen mit dem Fahrrad bewältigen. Die 400 Kilometer von Collonges zu meinem Dorf legte ich in zwei Tagen mit dem Fahrrad zurück. Die Fahrt ging durch die Rheinebene bis Basel, durch die ganze Schweiz nach Genf, über die Grenze nach Hochsavoyen, bis ich mein Ziel Collonges erreichte. Auf halber Strecke verbrachte ich die Nacht unter einem Baum, in eine Decke gehüllt. Auf dem Rückweg erlebte ich das gleiche erneut in umgekehrter Reihenfolge. Zu Weihnachten fuhr ich nicht nach Hause, weil die Bahn zu teuer und es mit dem Fahrrad im Winter zu schwierig war. Jede freie Minute und in den Ferien war ich als Buchevangelist unterwegs, um für mein Schulgeld zu arbeiten. Gott segnete mich finanziell. Bei Schulschluss hatte ich sogar noch ein kleines Guthaben, das ich gut gebrauchen konnte.

Weil ich wenig Schulbildung mitbrachte, brauchte ich das erste Jahr in Collonges, um mich einzuleben. Außerdem hatte ich große Mühe, den ganzen Tag zu sitzen und zu büffeln. Manchmal war ich nahe daran aufzugeben. Durch Gottes Gnade hielt ich durch und bestand alle fünf Jahre. Das hätte ich mir in meinen Träumen nicht vorstellen können.

Meine erste Stelle als Hilfsprediger führte mich nach Mühlhausen im Elsass. Nach einem Jahr wurde ich nach Straßburg versetzt. Dort gab es eine deutsche und eine französische Gemeinde. Damals war alles noch zweisprachig, weil die ältere Generation nicht Französisch sprach. Schließlich erweiterte sich mein Arbeitsgebiet auf alle zwölf Gemeinden, die es damals im Elsass gab.

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Das schöne Geschlecht

Durch meine Schüchternheit hatte ich mit dem schönen Geschlecht bis zu diesem Zeitpunkt nichts zu tun gehabt. Nun steht aber in der Bibel, dass es nicht gut ist, dass der Mensch alleine sei – schon gar nicht ein Prediger. Und auch da hat Gott wunderbar geholfen – sogar ohne mein Zutun. Bei einer Konferenz in Straßburg fiel mir eine junge Frau auf, die meinen Vorstellungen entsprach. Jedoch blieb es vorerst bei dieser einen Begegnung, denn ich musste weiter in ein anderes Arbeitsgebiet und hatte keine Möglichkeit, mich nach ihr zu erkundigen. Zu dieser Zeit diente ich an einem Sabbat in der Gemeinde Colmar. Als ich auf dem Podium stand und die Gemeinde überblickte, sah ich sie wieder. Ich erkundigte mich bei meinem Vorgesetzten über sie. Bald hatten wir Briefkontakt und beschlossen, uns zu treffen. Ich nahm mir Urlaub und fuhr über einen Pass ins Rheinland. Sie kam von der anderen Seite. »Wo der Wildbach rauscht im grünen Tal, dort trafen wir uns zum ersten Mal.« Bald darauf heirateten wir. Meine Frau war 25 Jahre und ich war mit meinen 35 Jahren wieder einmal der Spätzünder. Zu unserer großen Freude wurde die kleine Familie durch unseren Sohn Daniel und zwei Jahre später durch unsere Tochter Carine vergrößert.

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Vom Prediger zum Diakon und Gemeindeleiter

In meiner Haut als Prediger fühlte ich mich nie recht wohl. Nach sechs Jahren Dienst überzeugte mich der Heilige Geist, dass dies nicht meine weitere Lebensaufgabe sein sollte. Den vielen Anforderungen fühlte ich mich nicht gewachsen. Den Predigtdienst zu beenden, fiel mir aber nicht leicht. All die bekannten Glaubensgeschwister verlassen sowie auf Wohnungs- und Arbeitssuche zu gehen, war nicht einfach. Aber Gott war mit uns. Schließlich landeten wir in der Gemeinde Wetzlar. Dort fanden wir unsere Bestimmung – als ob sie auf uns gewartet hätte. Ich wurde bald als erster Diakon eingesetzt und meine Frau leitete die Kindersabbatschule. Zwei Jahre später wurde ich Gemeindeleiter. Das war das Richtige für uns. Wir durften der Gemeinde über viele Jahre dienen. Bei der Firma Leitz fand ich auch eine sehr gute Arbeitsstelle, die ich bis zu meiner Pensionierung behalten konnte.

Sieben Enkel, zwei Urenkel

Zu unseren zwei Kindern gesellten sich im Laufe der Jahre noch sieben Enkelkinder und zwei Urenkel. Durch die Gnade Gottes kann ich heute mit meinen 95 Jahren auf ein reiches Leben zurückschauen. Wir sind siebenmal umgezogen und das hat uns mit vielen Menschen in Berührung gebracht. Jetzt haben wir die Freude, unseren Lebensabend bei unserer Tochter und unserem Schwiegersohn mit deren vier Kindern (Fam. Gadringer) im schönen Burgenland zu verbringen. Wenn immer möglich, besuchen wir die Gemeinde Fürstenfeld, die uns herzlich aufgenommen hat.

Das Wichtigste

Wenn Jesus ruft, ist es das Wichtigste, ihm treu zu folgen, auch wenn es unverständlich und unbequem ist. Das möchte ich vor allem unseren jungen Leuten mitgeben. Ich blicke nicht nur zurück auf ein erfülltes Leben, sondern blicke nach oben – auf den wiederkommenden Herrn und auf eine viel erfülltere Ewigkeit in Gemeinschaft mit ihm.

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Georg Huntzinger und seine Frau gehören der Adventgemeinde Fürstenfeld nahe der ungarischen Grenze an.


 

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