Die Sahrauis und ihr Charakter: Gold in der Sahara

Die Sahrauis und ihr Charakter: Gold in der Sahara
Adobe Stock – lutsenko_k_

Begleite mich auf meiner Reise in die faszinierende Welt der Sahrauis, einem Volk, das trotz jahrzehntelanger Entbehrungen und Kämpfe eine bemerkenswerte Sanftheit und Kraft bewahrt hat. Von Stephan Kobes

Lesezeit: 15 Minuten

»Herzlich willkommen in der Sahara! Herzlich willkommen in der Mitte einer faszinierenden Nation, die ihre Herzen und Ohren für das Volk der Schrift geöffnet hat, das sich in ihrer Wüstenerfahrung an ihre Seite gestellt hat.«

Mit dieser Einladung nach Südalgerien begann eine spannende Reise. Die Sahrauis veranstalteten an der Grenze zur Westsahara eine Friedenstagung unter dem Thema »Frieden und Solidarität in der Familie«. Als Gastredner durfte ich erfahren, welche tiefe Sehnsucht die Herzen aller Sahrauis erfüllt.

Lass dich auf eine Reise in den riesigen Sandkasten eines faszinierenden Wüstenvolkes mitnehmen, aus dem niemand unverändert wiederkommt.

Erlebnisse im Süden von Algerien

Am Flughafen von Tindouf empfingen mich meine Gastgeber mit großer Herzlichkeit. Auf der sandigen Piste bis zum abgelegenen Flüchtlingscamp Smara begleitete uns eine Militäreskorte. Dort angekommen nahmen sahrauische Familien die Tagungsteilnehmer in ihre Häuser auf. Sie aßen, lachten und verbrachten die Tage mit uns unter der hellen Wüstensonne.

Eine einzigartige Gruppe hatte sich dort aus diesem Anlass zusammengefunden: Sahrauische Staatsmänner, Akademiker und Imame hatten nicht nur ihre Partner aus Algerien eingeladen, sondern auch ausgewählte Christen aus dem Westen. Da Frauen einen hohen Stellenwert in der sahrauischen Gesellschaft einnehmen, waren auch sie gut vertreten.

Die Sahrauis erzählten uns aus ihrer Heimat und über den Krieg, der Frauen und Kinder zur Flucht in die Wüste zwang, während die Väter und ihre Söhne Soldaten wurden. So bekam ich immer tieferen Einblick in die herzzerreißende Geschichte dieses Volkes.

Die Sahrauis

Die Sahrauis sind ein Volksstamm an der Westküste Afrikas. Das arabische Wort Ṣaḥrāwī صحراوي (Betonung auf dem zweiten langen A) bedeutet »Wüstenbewohner«. Dies spiegelt sich in ihrer ganzen Kultur wider. »Ihr Söhne der Sahara« lautet ihre Nationalhymne, wobei arabische, berberische und spanische Einflüsse ihren Alltag prägen.

Aktuell leben ca. 105.000 Sahrauis in der Westsahara – einem Gebiet entlang der Küste des Atlantiks, umgeben von Algerien, Marokko und Mauretanien. Dazu befinden sich zwischen 165.000 bis 200.000 von ihnen im Exil – die meisten in Algerien.

Warum das?

Einmarsch Marokkos und Mauretaniens

Von 1884 bis 1976 hatte Spanien das Gebiet der Westsahara als eine Kolonie verwaltet. Die Einwohner dieses Landes galten allerdings als freiheitsliebend – und warum auch nicht? Die Sahara ist für sie ja der Inbegriff von Freiheit.

Als sich Spanien 1976 aus dem Gebiet der Westsahara zurückzog, schien die langersehnte Autonomie zum Greifen nah. Endlich konnten die Sahrauis den nächsten unabhängigen Staat Afrikas errichten: die Arabische Sahrauische Demokratische Republik. Doch annektierten Marokko und Mauretanien das Land, das die Sahrauis als ihr Staatsgebiet betrachteten.

Sofort begann der militärische Arm der Sahrauis (die Frente Polisario) entschlossen gegen diese neue Kolonialisierung zu kämpfen.

Die westlichen Mächte verhielten sich auffallend still. Nur Algerien stellte sich auf ihre Seite. Auf algerischem Staatsgebiet errichtete man für sie Flüchtlingscamps. Während sahrauische Männer für die Freiheit ihrer Familien ihr Leben aufs Spiel setzten, flüchteten tausende Frauen mit ihren Kindern in den Südwesten der algerischen Sahara.

Die Sehnsucht eines vertriebenen Volkes

Die Lager waren eigentlich nur als eine vorübergehende Lösung gedacht. Die Sahrauis wollten in ihre alte Heimat zurückkehren. Beherzt kämpften sie für die politische Anerkennung und die Unabhängigkeit ihres Volkes. Doch auch nach 48 Jahren haben sie sie noch nicht erlangt.

Sie leben immer noch in Camps, die nach den Städten genannt wurden, die ihnen einst gehörten: Ajun, Awserd, Smara, Dakhla und Bojador.

Als ihre Männer in den Krieg zogen, blieb den Frauen nichts anderes übrig, als das Lagerleben zu steuern. Anfänglich lebten sie mit ihren Kindern in einfachen Zelten. Oft mangelte es an Nahrung und sauberem Wasser. Heute leben viele Sahrauis in einfachen Häusern. Kissen, Teppiche und Decken gehören dabei zu ihren wichtigsten Einrichtungsgegenständen. Es gibt inzwischen auch Kindergärten und Schulen und eine saubere, aber einfach eingerichtete Klinik. Aber nichts täuscht darüber hinweg, dass der größte Schmuck die Menschen sind, die in diesen Camps leben!

Das einfache Leben ist für viele Sahrauis nicht neu, denn traditionell waren sie Nomaden, deren Leben durch Karawanenhandel, Viehzucht geprägt war. Dass ihre Familien durch den Krieg auseinandergerissen wurden, ist jedoch ein spürbarer Schlag für ihr gesellschaftliches Gefüge. Dazu gibt es zahlreiche Waisenkinder, die auf eine Perspektive warten. Wo sind die liebevollen Hände, die sie aus der Armut ziehen?

Gibt es überhaupt jemand, der ihr Schicksal wahrnimmt?

»Ihr liebt unsere Kinder, also lieben wir euch!«

Amerikanische Christen hörten von diesem Flüchtlingselend. Sie begannen, die Liebe Gottes wahrnehmbar zu machen, indem sie die Sahrauis humanitär unterstützten. Auf diesem Weg kam auch die amerikanische Pastorenfrau Laura (Pseudonym) in Kontakt mit diesem vergessenen Wüstenvolk. Sie hatten den Auftrag, neun Kinder auf ihrer Reise in die USA zu begleiten, die ihre Kirche über die Sommerferien eingeladen hatte.

Als Laura in den Camps eintraf, erkannte sie die Not der Flüchtlinge. Eine sanfte Stimme schien ihr einen neuen Auftrag aufs Herz zu legen: »Lass sie meine Liebe spüren!«

Laura erinnert sich: »Als ich sie zum ersten Mal kennenlernte, standen die Sahrauis ganz oben auf der Liste der ›unerreichten, unerreichbaren‹ Volksgruppen.«

Sie nahm sich vor, Taten sprechen zu lassen. Immer wieder kehrte sie in die Lager zurück, um die Not zu mindern. Mit Unterstützung einer dazu gegründeten Organisation arrangierte sie zahlreiche Hilfstransporte und gründete eine Schule. Das Vertrauen wuchs.

Die dortigen Muslime hatten noch nie mit Christen zu tun gehabt und dachten, dass diese einem ganz anderen Gott dienen. Sie fragten: »Niemand hilft uns, aber ihr seid für uns da. Warum tut ihr das?«

Die Initiativen aus Amerika waren an sich schon eine große Überraschung für die Sahrauis. Aber auf ein Detail hatten die Sahrauis besonders Acht: Denn als die sahrauischen Kinder nach ihrem Aufenthalt in den USA wieder in den Camps ankamen, berichteten sie, wie liebevoll sie von ihren christlichen Gastfamilien aufgenommen worden waren.

Die Tatsache, dass der Glaube bei den amerikanischen Gastfamilien eine so starke Rolle spielte, brachte die Sahrauis auf die Idee, dass diese Christen, die sich fürsorglich um sie kümmerten, vielleicht doch diejenigen sein könnten, auf die der Koran achtungsvoll hinweist.

AlMā’ida 5:82

»Du wirst sicher die besten Freunde der Gläubigen unter denen finden, die sagen: Wir sind Christen (nasāra) …«

Später sagte der sahrauische Präsident zu Laura: »Ihr liebt unsere Kinder, also lieben wir euch.« Das Herz der Sahrauis öffnete sich für einen regen Austausch.

Eine entscheidende Frage

Eines Tages – als Laura auf einer Frauenkonferenz der Sahrauis eine Ansprache hielt – kam es zu einer entscheidenden Begegnung, die später zu einem regelmäßigen Friedensdialog führen sollte:

»Dieser Dialog begann vor etwa 15 Jahren, als mich zwei Fremde in den Flüchtlingslagern ansprachen, nachdem ich eine kurze Ansprache auf einer Frauenkonferenz gehalten hatte.

Zwei Männer saßen in der ersten Reihe. Das ist sehr ungewöhnlich bei einer muslimischen Frauenkonferenz. Danach fragten sie mich zögerlich, ob sie eine ›wichtige Frage‹ stellen dürfen.

Etwas nervös willigte ich ein. Dann kam die Frage: ›Kennst du Jesus?‹

Da diese Nation sehr stolz auf ihre 100%ige muslimische Identität war, vermutete ich zunächst eine Falle. Aber ich bejahte die Frage. Darauf sahen sich die beiden Männer begeistert an. Sie erzählten mir, dass sie darauf gewartet hatten, eines Tages jemanden zu treffen, der ihre große Frage beantworten konnte: ›Wer ist Jesus?‹«

Also verbrachte Laura an diesem Tag viele Stunden mit einem wachsenden Kreis von Zuhörern, die nach Jesus fragten. Was Laura anfänglich nämlich nicht wusste: Diese beiden Männer waren zwei leitende Imame der Sahrauis und Algerier!

Der Austausch an diesem Tag war die Geburtsstunde eines Dialogs, dessen Inhalte mittlerweile in ein ganzes Land und darüber hinaus im Fernsehen ausgestrahlt werden. Jahr für Jahr treffen sich seitdem islamische Würdenträger mit Christen, um ihre heiligen Texte miteinander zu vergleichen.

Dass die Weltöffentlichkeit den Aufschrei der Sahrauis mit Schweigen quittierte, hielt Gott nicht davon ab, dort ein großes Wunder zu wirken …

Der Friedensdialog

Ein bewegender Austausch füllte die Tage meiner Teilnahme am Friedensdialog im vergangenen Oktober.

Als Zeitpunkt für die diesjährige Tagung hatte der Präsident eine Festwoche gewählt, in der die Sahrauis ihr kulturelles Erbe feiern. Das zeigt: Er hatte den Dialog in die nationale Agenda aufgenommen – in das Herz der sahrauischen Identität. Ich war begeistert, wie alle – auch die Christen – frei über ihre Ansichten sprachen. Aber damit nicht genug: Jeder war eingeladen! Der Dialog sei so wichtig, dass auch die breite Öffentlichkeit daran teilnehmen solle. So hatte es der sahrauische Präsident, Ibram Ghali, entschieden. Auch für die mediale Berichterstattung war gesorgt. Algerische und sahrauische Fernsehteams sorgten dafür, dass die Inhalte des Austauschs in das ganze Land ausgestrahlt wurden.

Das Volk des Buches

Dass auch Christen bei einer solchen Tagung offen über die Bibel reden dürfen, ist ein wichtiges Signal. Es ist eine Erklärung an das sahrauische Volk, dass es wichtig ist, »die Leute des Buches willkommen zu heißen und von ihnen über ihr Buch zu lernen«, wie der Koran in den Suren 3:113.114 und 29:46 anordnet:

Āli-’Imrān 3:113-114

»Sie sind nicht alle gleich; denn unter den Leuten des Buches [d.h. der Bibel] gibt es eine rechtschaffene Gemeinde, die in den nächtlichen Stunden die göttlichen Verse mit großer Ehrfurcht rezitiert.
Sie glaubt an Allah und an den Jüngsten Tag, befiehlt das Gute und tut gute Werke …«

Al-’Ankabūt 29:46

»Unterhaltet euch nur auf die freundlichste Art und Weise mit den Leuten des Buches mit Ausnahme derer, die Unrecht tun. Und sagt: Wir glauben an das, was Allah zu uns und zu euch gesandt hat; unser Gott und euer Gott ist Derselbe, und Ihm ergeben wir uns. Denn unter den Leuten des Buches gibt es welche, die wirklich glauben.«

Auf diesem Friedensdialog werden Christen nach diesen Grundsätzen empfangen. Alle waren spürbar bewegt, als wir die Frage des Friedens aus religiösen, politischen und akademischen Blickwinkeln aufarbeiteten.

Charaktergold

Laura, die ihre sahrauischen Freunde immer wieder besucht, war auch dieses Mal wieder auf der Tagung. Dass die Flüchtlinge trotz Elend eine sanfte Natur bewahren, hat sie über die Jahre besonders beeindruckt.

»Oft habe ich das Gefühl, dass wir reines Gold an einem unbekannten Ort … entdeckt haben: bei einem unbekannten, unerreichbaren Volk.«

Einer Sache ist sich Laura sicher: Diese Kinder der Sahara haben ihren Charakteradel in den letzten Jahrzehnten bewiesen.

Die Sahrauis erziehen ihre Kinder immer noch für die Härte des Krieges. Aber sie lassen dabei eine Liebe erstrahlen, die im europäischen Westen kaum noch zu finden ist. Für achtloses Verwöhnen gibt es in ihrer Erziehung keinen Platz. Aus ihren Familien gehen junge Männer und Frauen hervor, die auf die Gefahren des Lebens vorbereitet sind. Das Ergebnis sind Gesichter, die eine anziehende Demut, Reinheit und Freundlichkeit ausstrahlen.

Ihr trauriges Schicksal lässt sie aber keineswegs schwach erscheinen, im Gegenteil: Sie tragen ihre historische Last mit Anmut und Selbstbeherrschung. Ihr ganzes Auftreten, ja sogar ihre Körperhaltung zeugen von Charakterstärke, während ihre Einfachheit ihre Charakterwürde besonders warm erstrahlen lässt. Anstatt sich hart und verbittert zu zeigen, behalten sie nach all den Kriegsjahren und der erlittenen Gewalt einen Blick für die Stärken ihrer »marokkanischen Brüder«. Statt sich ihren Klagen hinzugeben, machen sie das Beste aus ihrer Situation.

Starke Familienbande stabilisieren ihr soziales Gefüge, während ein fester, lebendiger Glaube  ihrem ganzen Dasein Bedeutung verleiht. Gefasst warten sie auf das Eingreifen Gottes.

Aber was hält die Zukunft für sie bereit?

»Hat ein Land sich je an einem Tag gebildet?«

Zunächst einmal ist es eine Tatsache, dass noch niemand ein Land über Nacht gebildet hat:

»Hat ein Land sich je an einem Tag gebildet? Wurde je ein Volk an einem einzigen Tag geboren?« (Jesaja 66,8 NL)

Arabischer Aufbruch

Das 20. Jahrhundert wurde zur Geburtsstunde zahlreicher moderner arabischer Staaten. Alle starteten mit großen Ambitionen. Der Arabische Frühling brachte Aufstände und große Umwälzungen. Aber haben die jungen arabischen Staaten ihre Ziele erreicht?

Während ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung der arabischen Welt zum Teil großen Reichtum brachte, sitzt der Orient mehr denn je auf einem Pulverfass.

Vielleicht doch ein Geschenk?

Für die Sahrauis scheint es aktuell nur Unterdrückung oder Exil zu geben. Sie haben nur wenig Staatsgebiet, auf dem sie eine Nation aufbauen könnten. Auch auf die reichen Rohstoffreserven ihres Landes haben sie kaum Zugriff. Aber ihre Stärke liegt an einer anderen – an einer entscheidenderen Stelle!

Ihre Demut, ihre Sanftheit und Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen still und mutig zu ertragen, sind eine erfrischende Ergänzung im arabischen Streben nach neuer Blüte. Charakterlich bringen sie bemerkenswerte Stärken mit, die als Kapital für die Zukunft dienen werden.

Ihr Dasein im Exil macht die Sahrauis auch keineswegs weltfremd: Gerade wegen ihrer Abgeschiedenheit verfolgen die Sahrauis alles, was in der Welt abläuft und analysieren alles mit nachahmenswerter Klarheit und intellektueller Schärfe.

Kann es sein, dass Gott die harte Leidensprüfung der Sahrauis in ein Geschenk verwandelt hat? Der Charakteradel, den die Sahrauis aktuell aufweisen, lässt erahnen, dass Gott ihnen einen besonderen Platz in der Familie der Nationen geben wird.

Es lohnt sich, ein Auge auf die Sahrauis zu haben!

Schlusswort

Zurzeit benutzt Gott dieses geschundene Volk aus der Wüste, das zu einer »unerreichten/unerreichbaren« Volksgruppe gehört, um die Gute Nachricht nach Algerien und weit darüber hinaus zu bringen: in die gesamte muslimische Welt.

Wieder einmal scheint Gott ein Volk in der Wüste auf einen hohen Auftrag vorzubereiten. Auf Hebräisch sagt man für Wüste »Midbar« – »da, wo das Wort geschieht«.

»Darum siehe, ich will sie locken und in die Wüste führen und freundlich mit ihr reden.« (Hosea 2,16)

Am liebsten säße ich noch heute unter dem weiten Himmel der Sahara, um im Austausch mit den Sahrauis Weisheit zu lernen.

Lasst uns für die Sahrauis, ihre immense menschliche Not und die immer größere Reichweite dieses Dialogs beten!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Ich stimme der Speicherung und Verarbeitung meiner Daten nach EU-DSGVO zu und akzeptiere die Datenschutzbedingungen.