Fünf Jahre verheiratet, beide Kinder beim Autounfall verlieren: der Albtraum aller Eltern. Wer das überstanden hat, kann praktisch jedem Hoffnung vermitteln. Von Bryan C. Gallant
»Wenn ich heute glaube, dann nicht, weil alle meine Fragen beantwortet wären, sondern weil mir mitten in meinen Zweifeln die Güte begegnet ist.«
Wie würde Ihr Leben verlaufen?
Wie würde Ihr Leben verlaufen, wenn Sie mit 26 Jahren, 5 davon verheiratet, Ihre Kinder in einem tragischen Autounfall verlieren würden? Unleugbar ist die Geschichte eines Paares, das trotz diesem schlimmsten Albtraum aller Eltern nicht nur überlebt hat, sondern wieder aufgeblüht ist.
Lesen Sie Bryans und Pennys Reise durch Schluchten abgrundtiefen Schmerzes und völliger Gebrochenheit bis hin zu majestätischen Gipfeln der Freude. Auf diesem Weg haben sie ihre Wut hinausgeschrien und mit den schwierigsten Fragen gerungen.
Diese ergreifende Artikelserie spricht jeden an, ungeachtet seines ethnischen oder religiösen Hintergrunds. Sie zeigt den tragischen Verlust, den alle in der einen oder andern Form erleben. Die Artikel ziehen aus den Erlebnissen beeindruckende Lehren über Leben, Tod, Ehe, Kummer, Hoffnung, Freunde, Belastbarkeit und letztlich – über Gott.
In einer Welt, in der uns auf Schritt und Tritt Trümmer und Verlust begegnen, lädt uns diese Serie ein, neue Gedanken zu erwägen und Hoffnung im Angesicht unserer Schmerzen zu fassen. Wir erkennen, dass wir gewisse Erlebnisse lieben und andere hassen. Am Ende aber machen sie uns alle aus.
Über den Autor
Bryan Gallant lebt leidenschaftlich gerne und lädt auch andere dazu ein. Wenn er gerade keine Vorträge hält und andere motiviert, ihr Potenzial daheim und in ihrem Wirkungsfeld voll auszuschöpfen, verbringt er am liebsten Zeit mit seiner Frau Penny, mit der er kürzlich silberne Hochzeit gefeiert hat, und mit ihren vier gemeinsamen Kindern. Zusammen haben sie Menschen an verschiedenen Orten in den USA, Mikronesien, Kambodscha und Indonesien gedient.
Auf dem Weg zum Grab
Es scheint immer zu regnen, wenn wir hier herkommen. Jeden Moment konnte es losregnen. Auf der Fahrt hingen die Wolken über uns, als ballten sich alle unsere Worte in ihnen. Ich warf Penny einen verstohlenen Blick zu und sah, dass der Aufruhr in meinem Kopf auch in ihr Gesicht graviert war. Noch war draußen kein Donner zu hören, nur drohende Finsternis. Im Kleinbus herrschte Stille.
Ich parkte am Straßenrand an einem Seiteneingang des städtischen Friedhofs von Waterford. Von hier aus hätten wir den kürzesten Weg zu jenem bewussten Ort: einem Ort, den ich liebte und hasste. Jeder Schritt näher wühlte auf, verwirrte, schmerzte.
Als wir an den Grabsteinen vorübergingen, tobte ein Krieg um meine Sinne. Das ruhige Sonnenlicht Michigans schien durch die leuchtenden Bäume und tanzte auf den bunten Blumen. Der Geruch von manikürtem, frisch gemähtem Rasen lag in der Luft. Hier hatte sich jemand viel Mühe gemacht und großen Einsatz gebracht. Sogar die verschiedenen Kinderspielzeuge und die fröhlichen Plastikpropeller, die man zum Andenken aufgestellt hatte, flirteten mit der Brise und gaben dem Ort fast eine unwirkliche Atmosphäre. Jedes Spielzeug glich einem Wächter, der sich an Erinnerungen klammerte, sie bewachte und der leugnen wollte, dass dieser Ort ein Ort der Toten ist.
Es war still, zu still.
Das sanfte Zwitschern eines Vogels oben in den Zweigen, hin und wieder ein vorbeifahrendes Auto und der ernste Klang unserer Schritte konnten den Schrei meines Herzens nicht übertönen. Der Sturm war kurz davor auszubrechen. Penny und ich liefen nebeneinander und erinnerten uns wieder daran, was Einsamkeit durch den Tod bedeutet. Wir fanden die richtige Reihe und schoben uns bis an ihr Ende; endlich – wir waren da.
Am Grab
Ich hielt sie fest, während wir auf den Grabstein hinunterschauten, der die Ruhestätte unserer lieben Kinder, Caleb und Abigail, kennzeichnete. Sie waren beide gemeinsam gestorben, viel zu früh, damals 1994.
Die Gefühle brachen sich Bahn, da, vor der Granitplatte, die mich an unseren Schmerz und Verlust erinnerte. Erneut schlugen Fragen in mich ein wie zuckende Blitze. Jeder einzelne schlug in meine Gedanken mit dem Wörtchen: »Warum?«
Rauer Donner aus meinem tiefsten Innern erschütterte mich.
Warum?
Entlassenen Schauspielern gleich lagen die Leiber unserer Kinder unter uns. Das Spiel, das wir Leben nennen, war ihrer überdrüssig geworden. Ohne Zugabe hatte es sie viel zu früh von der Bühne gejagt. Unsere lauten und langen Protestschreie waren ungehört verhallt!
Warum waren sie so jung gestorben? Warum sie und nicht wir? Die Fragen bohrten sich immer wieder in mein Herz. Der Schmerz und die Sehnsucht brandeten wie Wogen über mich hinweg.
Es fing an zu regnen. Der Regen lief uns die Wangen herunter und mischte sich mit unseren Tränen.
Penny erwiderte meine Umarmung, indem sie mich fest an sich drückte. Das war das Einzige, was wir tun konnten: uns aneinander klammern.
Erinnerungen
Erinnerungen holten mich ein. Trauer überwältigte mich. Ich kochte vor Wut. Der Treibsand der Fragen zog mir immer wieder den Boden unter den Füßen weg. Das grausame Vakuum drohte mich zu verschlingen. Ich klammerte mich noch fester an Penny und hoffte, dass wir gemeinsam überleben würden. Die Zeit stand quälend still.
Wir brachen zusammen unter der unsichtbaren Last, sanken zu Boden und tasteten nach dem Bild unserer liebsten Kleinen, das mit Plexiglas an dem Granit befestigt war. Wir weinten.
Das verblichene Bild passte zu meinen bereits schwächer werdenden Erinnerungen. Ich sah, wie Caleb mit seinem kindlichen Lächeln seine Schwester Abigail anschaute. Zärtlich und doch entschlossen, wie es sich für einen älteren Bruder und Beschützer gehört, saß er hinter ihr und ermutigte sie, ihr allgegenwärtiges Lächeln auf den Fotografen von damals zu richten. Beide hatten ihre Feiertagsgarderobe an, die schönste, die wir uns mit meinem kleinen Einkommen damals leisten konnten.
Als ich das Bild betrachtete, versuchte ich mich an ihre lebendigen, frischen Gesichter zu erinnern und an ein gemeinsames Erlebnis. Doch alles, was ich sehen konnte, war der Tag, an dem sie vor meinen Augen starben – in genau diesen Kleidern! Die Farben kamen mir hässlich vor.
Meine Braut
Nach ein paar quälenden Momenten flüsterte ich irgend etwas Ungereimtes und versuchte das Grab ein wenig in Ordnung zu bringen. Penny half mir, die Blätter zur Seite zu fegen und um das Plexiglasbild so gut wie möglich alles sauber zu machen mit der einzigen Arbeitshand, die ihr nach dem Unfall an jenem Schicksalstag geblieben war und die sie täglich an Verlust, Wandel und Tod erinnerte. Wir arbeiteten zusammen daran, diesen heiligen und schmerzreichen Ort etwas zu verschönern.
Ich strich über Pennys Haar und wischte ihr eine Träne vom Auge. Das war meine liebe Braut mehr als zwanzig Jahre nach der Hochzeit. Ich wusste nicht, was sie genau in diesem Moment dachte, aber ihre Tränen ließen das tiefe Leid erahnen, das sie zerriss, das Verblassen der Erinnerung an jenen Tag, den Kampf zu leben und die geliebten Erinnerungen zu bewahren. Das war die wunderbare Frau, die ich liebe, die an jenem Tag fast selbst gestorben wäre.
Als ich sie anschaute, überschlugen sich meine Gedanken. Ich versuchte alles zu verarbeiten. Wir waren so jung, als unsere Kinder starben. Wir hatten jung und nichtsahnend geheiratet. Dennoch hatten wir uns in den Folgejahren durchgeschlagen. Trotz dem Schmerz hatten wir ums Überleben gekämpft. Wir hatten miteinander gekämpft und gegen die Trauer, die uns das Leben rauben wollte. Wir hatten gelernt wieder zu leben und zu lieben, nachdem wir fast durch das Datum, das hier im Felsen eingraviert war, dahingerafft worden waren.
Waren wir gute Eltern?
Sie holte mich wieder zurück in die Wirklichkeit, als sie mich anschaute und ihr die Worte kaum hörbar über die Lippen kamen: »Waren wir gute Eltern?«
Wieder so ein Blitz. Warum muss der Tod so schmerzhafte Gedanken und Fragen von letztgültiger Bedeutung auslösen?
Sie rang wieder mit den Tränen, zwang die Worte über ihre Lippen und sagte mit versagender Stimme: »Haben sie sich geliebt gefühlt?«
Die Schuld der Überlebenden trägt sich nicht leicht.
»Ja«, wollte ich schreien! Sie war eine gute Mutter gewesen. Sie hatte ihr Bestes gegeben und sie wussten, dass sie geliebt waren.
Doch andererseits fühlte ich mich so sehr als Versager. Ich war nicht viel daheim gewesen, als sie noch am Leben waren, und an jenem schrecklichen Tag war ich in meinen Augen ein Vater voller Fehler gewesen. Wir lebten nicht in dieser Gegend der Vereinigten Staaten. Daher kamen wir nicht oft hierher. Als ich an das letzte Mal dachte, als wir hier waren, wurde das Crescendo meiner Gefühle, als Vater versagt zu haben, so laut, dass es in den Refrain der Schande einstimmte, den mein Herz allzu gut beherrschte. Heute wie damals waren wir gekommen, um uns zu verabschieden. Wieder einmal.
Natürlich wusste ich, dass sie uns nicht hörten. Ihr eigener unfreiwilliger Abschied war ja schon 16 Jahre her. Wir waren jetzt die, die weggingen. Wieder.
Diesmal zogen wir nach Indonesien um. Wir würden am anderen Ende der Welt sein, weit weg von ihnen. Was für Eltern waren wir? Was für ein Beschützer und Vater war ich? Bin ich? Die Gedanken stachen, schlugen und trafen mich wie Schüsse in den Rücken eines Mannes, der schon verwundet am Boden liegt.
Es regt sich
Als wir uns weiter flüsternd und ehrfürchtig unterhielten, uns die Tränen abwischten und Laub von der dunklen, schwarzen Grabsteinplatte strichen, öffnete sich die Schiebetür unseres Autos. Elijahs Gesicht und dunkles, schwarzes Haar regte sich an der Stelle, wo die Tür gewesen war, und es war uns klar, was er wollte. Er fragte uns, ob er kommen und sehen dürfe, wo Caleb und Abigail begraben seien.
Ich war überrascht. Wir hatten unseren Kindern gesagt, sie sollten im Auto bleiben. Es gab für sie keinen wirklichen Grund, diesen Ort zu besuchen. Sie kannten die nicht, die hier begraben waren. Hier gab es nichts zu sehen, nur eine tiefe, persönliche Narbe, die Penny und ich spürten und alleine zu kurieren versuchten. Aber er wollte es sehen. Sein Gesicht bettelte förmlich um Erlaubnis, als sein Mund die Worte äußerte.
Ich schaute Penny an, um ihre Gedanken zu lesen und sie nickte schwach. Also sagte ich: »Gut, du kannst kommen.« Anscheinend sind auf Friedhöfen Verwirrung und voreilig kurze Sätze nichts Außergewöhnliches.
In wenigen Augenblicken war Elijah, unser lebhafter Dreizehnjähriger an unserer Seite und schaute still auf den Grabstein hinab. Niemand sprach. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht hätten andere Männer diesen Moment genutzt, um über wirklich wichtige Dinge zu reden und bei ihrem Kind eine neue Reifungsphase einzuleiten. Ich nicht. Ich versagte weiter als Vater und war von den eigenen Gefühlen überwältigt.
Wieder bewegte es sich im Auto und Hannah, weniger als acht Monate jünger als Elijah, schnallte die anderen ab, damit auch sie schauen könnten. Als sie befreit waren, half Hannah unserem sechsjährigen Noah, der wiederum die kleine Hadassah führte, die schließlich so schnell angewackelt kam, wie es ihre drei Jahre alten Beine zuließen.
Jetzt waren sie alle bei uns. Vier von ihnen. Einer braunhäutig, drei blondhaarig.
Wo bleibt die Ehrfurcht?
Zu meinem Entsetzen fingen sie an, auf dem Grab herumzuspazieren. Sie stellten Fragen, fingerten alles an. Keinerlei Ehrfurcht. Kein Bemühen um Stille. Es kam mir so vor, als hätten sie weder Achtung vor den Toten noch vor den Lebenden.
Eine Welle von Verzweiflung und Zorn überkam mich. Wussten sie nicht, was dies für ein Ort war? Wie konnten sie ihn wie einen Park oder eine kurze Fahrtpause behandeln? Natürlich, sie waren Kinder, ihre Fragen waren berechtigt, das war alles für sie neu. Aber … sahen sie denn nicht den Schmerz, den wir spürten?
Nein.
Wie hätten sie es auch spüren können? Selbst Erwachsenen gelingt es nicht, die feine Linie zwischen Anteilnahme und Einfühlung zu begreifen.
Sie begannen uns über Calebs und Abigails Leben auszufragen.
Erinnerungen.
Geschichten.
Verhaltenes Lachen.
Noch ein Tränenstrom.
Fast übermannte mich der Zorn, aber da geschah etwas.
Der Wendepunkt
Ich kann nicht erwarten, dass jemand wirklich versteht, was dieser Augenblick bedeutete. Jeder von uns kennt Situationen im Leben, wenn etwas sehr klar wird und sich der Horizont weitet, wo ein tiefer Sinn deutlich vor uns auftaucht und unsere Wahrnehmung der Vergangenheit und der Zukunft völlig verändert. Das geschah in diesem Moment für mich.
Als der Zorn anschwoll und die Gefühle mich durchschüttelten, hörte ich plötzlich ein Flüstern in meinen Gedanken, erst schwach, als erwachte ich gerade vom Schlaf, dann klarer und stärker. Schließlich erscholl es wie ein Fanfarenstoß!
Dort an jenem Ort, auf einem stillen Friedhof, an dem Abertausende von Menschen, zu denen auch meine Frau und ich gehörten, sich an den Tod erinnern, wurde ich Zeuge des Lebens! Nur wenige Zentimeter vom unterirdischen Grab unserer beiden ersten Kinder, spazierten jetzt vier weitere umher!
An einem Ort des Todes war jetzt Leben! Vorher waren wir bloß gestrandete Wracks gewesen, doch jetzt hatte Gott – und das Leben – uns vier weitere Kinder geschenkt, die wir lieben, in den Arm nehmen und mit denen wir das Leben wieder erleben durften! Absolut erstaunlich …
Auf diesem Friedhof erlebte ich Auferstehung. Wie passend!
Quelle: Bryan c. Gallant, Undeniable, An Epic Journey Through Pain, 2015, Seite 9-15
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