In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1517 hatte Kurfürst Friedrich der Weise einen Traum, der ihn darauf vorbereitete, seine vorgesehene Rolle in der Reformation zu übernehmen – ein Traum, der auch von Ellen White zitiert wird. Von Alberto Rosenthal
Der hier wiedergegebene Traum ist leicht gekürzt und sprachlich bearbeitet. Angaben zur Überlieferung und zur Quelle finden sich unten.
Am Morgen des 31. Oktober 1517 sagte der Kurfürst zu Herzog Johann: »Herr Bruder, ich muss Euch einen Traum erzählen, den ich letzte Nacht hatte! Ich würde so gerne seine Bedeutung wissen! Er war so eindrücklich, dass ich ihn niemals vergessen werde, selbst wenn ich 1000 Jahre leben sollte. Ich habe ihn dreimal geträumt und jedes Mal mit neuen Details.«
Herzog Johann: »Herr Bruder, war es ein guter oder ein böser Traum?«
Der Kurfürst: »Wir wissen es nicht. Gott weiß es.«
Herzog Johann: »Das soll Euch nicht beunruhigen. Aber seid so gut, erzählt mir doch diesen Traum!«
Der Kurfürst: »Als ich gestern Abend zu Bett ging, müde und matt, schlief ich gleich nach meinem Gebet ein und hatte zweieinhalb Stunden geruht, als ich erwachte und mir bis nach Mitternacht alle möglichem Gedanken durch den Kopf gingen. Unter anderem, wie ich die lieben Heiligen und mein Hofgesinde zu Ehren bringen wollte. Ich betete auch für die armen Seelen im Fegefeuer und bat Gott um seine Gnade, dass er mich, meine Räte und mein Land in rechter Wahrheit wolle leiten. Dann schlief ich wieder ein.
Dann träumte mir, dass der allmächtige Gott mir einen Mönch sandte, der war ein natürlicher Sohn des Apostel Paulus. Alle lieben Heiligen begleiteten ihn auf Gottes Befehl und bezeugten, dass kein Betrug mit ihm wäre, sondern es sei wahrhaftig ein Gesandter Gottes. Sie baten mich, ich möge so gnädig sein, dem Mönch zu gestatten, etwas an das Tor meiner Schlosskirche zu Wittenberg zu schreiben. Es würde mich nicht gereuen. Ich erlaubte es durch meinen Kanzler.
Daraufhin fing der Mönch an, in so großen Buchstaben zu schreiben, dass ich sie zu Schweinitz lesen konnte. Die Feder, die er benutzte, war so lang, dass ihr Ende bis nach Rom reichte, wo sie die Ohren eines dort liegenden Löwen durchbohrte. Auch brachte sie die dreifache Krone auf dem Haupt des Papstes zum Wanken und wollte ihm vom Haupt fallen. Du und ich, Bruder, standen nicht weit davon, so streckte ich meine Hand aus. Aber genau in dem Augenblick erwachte ich und hielt meinen Arm noch in die Höhe. Ich war erschrocken und auch zornig, dass der Mönch seine Feder nicht bescheidener führte. Als ich mich aber recht besann, da war es nur ein Traum.
Ich war noch immer voll Schlafs, mir fielen die Augen zu und der Traum kam wieder. Der Löwe begann, verärgert durch die Feder, mit aller Macht zu brüllen, sodass die ganze Stadt Rom und alle Stände des Heiligen Römischen Reiches zusammenliefen, um zu erfahren, was da los sei. Der Papst bat sie, diesem Mönch Widerstand zu leisten. Ich wachte erneut auf, bat Gott seine päpstliche Heiligkeit vor allem Unheil zu behüten und schlief wieder ein.
Dann träumte ich, dass wir versuchten, die Feder dieses Mönches zu zerbrechen. Aber je mehr wir uns bemühten, desto steifer wurde sie und desto ohrenbetäubender wurde ihr Knarren. So gaben wir schließlich auf. Dann fragte ich den Mönch – denn ich war manchmal in Rom und manchmal in Wittenberg –, woher er diese Feder hatte und warum sie so zäh sei. ›Die Feder‹, antwortete er, ›gehört einer alten, hundertjährigen Gans aus Böhmen. Sie ist deshalb so unverwüstlich, weil man ihr weder Geist noch Seele nehmen könne. Auch ich selbst kann mich darüber nicht genug verwundern.‹ [Tschechisch ›Hus‹ bedeutet Gans. Von Jan Hus heißt es, er habe auf dem Scheiterhaufen gesagt: Jetzt bratet ihr eine Gans, doch in 100 Jahren wird ein Schwan kommen, den werdet ihr ungebraten lassen.]
Plötzlich hörte ich Geschrei. Aus der langen Mönchsfeder waren unzählige andere Federn gewachsen. Es war eine Lust anzusehen, wie sich viele gelehrte Leute darum rissen. Ich erwachte zum dritten Mal. Es war Tag geworden.«
Herzog Johann: »Kanzler, was denkt Ihr? Hätten wir nur einen verständigen, frommen Josef oder einen Daniel unter uns!«
Kanzler: »Euer Gnaden kennt das Sprichwort, dass die Träume von jungen Mädchen, Gelehrten und hohen Herren gewöhnlich eine verborgene Bedeutung haben. Aber die Bedeutung dieses Traumes werden wir erst kennen, wenn die Ereignisse stattgefunden haben.«
Herzog Johann: »Das ist auch meine Meinung, Kanzler. Wir sollten uns nicht zermartern und versuchen, die Bedeutung herauszufinden. Gott wird alles zum Besten wenden und uns zu seiner Zeit die rechte Bedeutung mitteilen.«
Der Kurfürst: »Möge unser treuer Gott es so tun. Aber ich werde diesen Traum nie vergessen. Mir war schon eine Erklärung in den Sinn gekommen, aber ich werde sie für mich behalten. Doch ich will sie aufzeichnen. Die Zeit wird wohl zeigen, ob ich’s recht getroffen habe. Dann wollen wir uns wieder darüber unterhalten.«
Historischer Hintergrund:
Friedrich der Weise hatte diesen Traum auf Schloss Schweinitz. Er erzählte ihn am Morgen seinem Bruder Herzog Johann, im Beisein von Georg Spalatin, der ihn mit Anton Musa (1485–1547), einem Mitstreiter Luthers, teilte. Musa notierte ihn (auch Friedrich selbst – so Musa über Spalatins Zeugnis – soll noch am selben Morgen eine Aufzeichnung vorgenommen haben), die Mitschrift gelangte in den Besitz des Joachimsthaler Pfarrers Bartholomäus Schönbach (1532–1595). Bei ihm sah sie 1591 sein Freiberger Amtskollege David Krautvogel ein (1529–1601). Er fertigte davon eine Abschrift an, auf die weitere folgten.
Der Traum wurde weithin bekannt. Seine Echtheit stand anfänglich allgemein außer Frage. Im Zuge der Aufklärung und des Rationalismus wurde der Traum jedoch zunehmend als Fiktion eingeordnet, als eine Erfindung David Krautvogels. Tatsächlich aber lässt sich die Integrität Krautvogels genauso wenig in Zweifel ziehen wie jene Spalatins, Musas oder Schönbachs. Der deutsche Historiker Johannes Conrad Knauth (1662–1732) bezeugt, dass Krautvogel als »fromm und ehrlich« galt, als »vielbelobt« (Des alten berühmten Stiffts-Closters und Landes-Fürstlichen Conditorii Alten-Zella …, 1721, S. 127, 128). James Aitken Wylie gibt Friedrichs Traum im neunten Kapitel seines berühmten Werkes Die Geschichte des Protestantismus wieder. Er bemerkt dazu: »Der Traum wird von allen Chronisten jener Zeit dokumentiert. Über seine Wahrhaftigkeit besteht kein Zweifel, wie wir ihn auch auslegen mögen.« So sah es auch Ellen White, die den Traum in dem Artikel »The First Blow of the Reformation« vom 14. Juni 1883 in Signs of the Times wiedergibt.
Der deutsche Grundtext des Traums findet sich hier auf Wikisource.
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