Luther auf der Wartburg (Reformationsserie 16): Herausgerissen aus dem Alltag

Luther auf der Wartburg (Reformationsserie 16): Herausgerissen aus dem Alltag
Pixabay - lapping

Wenn die Katastrophe zum Segen wird. Von Ellen White

Am 26. April 1521 reiste Luther aus Worms ab. Bedrohliche Wolken verdunkelten seinen Weg. Doch als er aus dem Stadttor trat, war sein Herz voll Freude und Lob. »Satan selbst«, sagte er, »hat die Festung des Papstes verteidigt; aber Christus hat eine breite Bresche geschlagen. Der Teufel musste zugeben, dass der Messias mächtiger ist.«

»Der Konflikt in Worms«, schreibt ein Freund des Reformators, »bewegte Menschen nah und fern. Als der Bericht davon durch Europa ging – nach Skandinavien, die Schweizer Alpen, die Städte Englands, Frankreichs und Italiens – griffen viele begierig zu den mächtigen Waffen in Gottes Wort.«

Abreise aus Worms: Mit einer Einschränkung treu

Um zehn Uhr verließ Luther die Stadt mit den Freunden, die ihn nach Worms begleitet hatten. Zwanzig berittene Männer und eine große Menschenmenge geleitete die Kutsche bis vor die Mauern.

Auf der Rückreise von Worms entschloss er sich, noch einmal an den Kaiser zu schreiben, weil er nicht als schuldiger Rebell dastehen wollte. »Gott ist mein Zeuge; er kennt die Gedanken«, sagte er. »Ich bin von ganzem Herzen bereit Eurer Majestät zu gehorchen in Ehre oder Schande, im Leben oder Tod, mit einer Einschränkung: wenn es gegen Gottes lebendig machendes Wort geht. In allen geschäftlichen Dingen des Lebens gilt Euch meine unverbrüchliche Treue; denn hier hat Verlust oder Gewinn nichts mit dem Heil zu tun. Aber es ist gegen Gottes Willen, sich Menschen in Fragen des ewigen Lebens unterzuordnen. Geistlicher Gehorsam ist echte Anbetung und sollte dem Schöpfer vorbehalten sein.«

Er richtete auch einen Brief mit fast demselben Inhalt an die Reichsstaaten, in dem er die Geschehnisse in Worms zusammenfasste. Dieser Brief machte einen tiefen Eindruck auf die Deutschen. Sie sahen, dass Luther vom Kaiser und dem höheren Klerus sehr ungerecht behandelt worden war, und sie waren sehr empört über die arroganten Anmaßungen des Papsttums.

Hätte Karl V. den echten Wert eines Mannes wie Luther für sein Reich erkannt – eines Mannes, der sich nicht kaufen oder verkaufen ließ, der seine Grundsätze weder für Freund noch Feind opferte –, so hätte er ihn geschätzt und geehrt, statt ihn zu verurteilen und zu ächten.

Überfall als Rettungsaktion

Luther reiste nach Hause und erhielt unterwegs Huldigungen aus allen Schichten. Würdenträger der Kirche hießen den Mönch willkommen, auf dem der Papstfluch ruhte, und weltliche Beamte ehrten den Mann, der unter dem Reichsbann stand. Er beschloss, vom direkten Weg abzubiegen, um Mora, den Geburtsort seines Vaters, zu besuchen. Sein Freund Amsdorf und ein Fuhrmann begleiteten ihn. Der Rest der Gruppe fuhr nach Wittenberg weiter. Nach einer friedvollen Pause von einem Tag bei seinen Verwandten – was für ein Gegensatz zum Aufruhr und Streit in Worms – setzte er seine Reise fort.

Als die Kutsche durch einen Hohlweg kam, trafen die Reisenden auf fünf gut bewaffnete, maskierte Reiter. Zwei packten Amsdorf und den Fuhrmann, die anderen drei Luther. Schweigend zwangen sie ihn abzusteigen, warfen ihm einen Rittermantel über die Schultern und setzten ihn auf ein zusätzliches Pferd. Dann ließen sie Amsdorf und den Fuhrmann gehen. Alle fünf sprangen in die Sättel und verschwanden mit dem Gefangenen im finsteren Wald.

Auf verschlungenen Pfaden bahnten sie sich ihren Weg, mal vorwärts, mal rückwärts, um jedem Verfolger zu entkommen. Bei Einbruch der Nacht schlugen sie einen neuen Weg ein und drangen schnell und lautlos durch dunkle, fast unbetretene Wälder bis zu den Bergen Thüringens vor. Hier thronte auf einem Gipfel, der nur durch einen steilen und schwierigen Aufstieg zu erreichen war, die Wartburg. In die Mauern dieser abgelegenen Festung wurde Luther von seinen Entführern gebracht. Die schweren Tore schlossen sich hinter ihm und verbargen ihn vor der Sicht und der Kenntnis der Außenwelt.

Der Reformator war nicht in Feindeshände gefallen. Ein Wächter hatte seine Bewegungen verfolgt, und als der Sturm über sein wehrloses Haupt hereinzubrechen drohte, eilte ein wahres und edles Herz zu seiner Rettung. Es war klar, dass Rom nur mit seinem Tod zufrieden sein würde; allein ein Versteck konnte ihn vor den Fängen des Löwen bewahren.

Nach Luthers Abreise aus Worms hatte der päpstliche Legat ein Edikt gegen ihn erwirkt mit der Unterschrift des Kaisers und dem Reichssiegel. In diesem kaiserlichen Dekret wurde Luther denunziert als »Satan selbst, verkleidet als Mann in Mönchskutte«. Es wurde befohlen, durch geeignete Maßnahmen sein Werk zu stoppen. Ihm Unterschlupf zu gewähren, Essen oder Trinken zu geben, ihm durch Wort oder Tat, öffentlich oder privat zu helfen oder ihn zu unterstützen, war strengstens verboten. Man sollte ihn egal wo ergreifen und den Behörden übergeben – dasselbe galt für seine Anhänger. Eigentum war zu beschlagnahmen. Seine Schriften sollten vernichtet werden. Schließlich sollten alle unter den Reichsbann kommen, die es wagen sollten, gegen dieses Dekret zu verstoßen.

Der Kaiser hatte gesprochen, der Reichstag hatte dem Dekret seine Zustimmung gegeben. Die ganze Gemeinde der Anhänger Roms jubelte. Nun war doch das Schicksal der Reformation besiegelt! Die abergläubische Menge schauderte bei der Beschreibung Luthers durch den Kaiser als in Mönchskutte verkleideter, fleischgewordener Satan.

In dieser Stunde der Gefahr schuf Gott für seinen Diener einen Ausweg. Der Heilige Geist bewegte das Herz des Kurfürsten von Sachsen und gab ihm die Weisheit für den Plan zu Luthers Rettung. Friedrich hatte den Reformator noch in Worms wissen lassen, dass seine Freiheit eine Zeit lang für seine Sicherheit und die der Reformation geopfert werden könnte; aber es war kein Hinweis gegeben worden, auf welche Weise. Unter Mitwirkung echter Freunde wurde der Plan des Kurfürsten umgesetzt, und zwar mit so viel Takt und Geschick, dass Luther vor Freunden und Feinden völlig verborgen blieb. Sowohl seine Ergreifung als auch seine Verbergung waren obendrein so geheimnisvoll, dass selbst Friedrich lange Zeit nicht wusste, wohin er gebracht worden war. Dies geschah nicht ohne Absicht: Solange der Kurfürst nichts über Luthers Verbleib wusste, konnte er auch nichts verraten. Er hatte sich versichert, dass der Reformator in Sicherheit war, und das reichte ihm.

Rückzugszeit und ihre Vorzüge

Frühling, Sommer und Herbst vergingen, und der Winter kam. Luther war immer noch gefangen. Aleander und seine Parteifreunde freuten sich, dass Evangeliumslicht ausgelöscht zu haben. Stattdessen füllte Luther seine Lampe aus dem unerschöpflichen Vorrat der Wahrheit, um zu gegebener Zeit mit hellerem Glanz hervorzustrahlen.

Nicht nur zu seiner eigenen Sicherheit wurde Luther nach Gottes Vorsehung von der Bühne des öffentlichen Lebens genommen. Vielmehr triumphierte unendliche Weisheit über alle Umstände und Ereignisse aufgrund tieferer Pläne. Es ist nicht Gottes Wille, dass sein Werk das Gepräge eines einzigen Mannes trägt. Andere Arbeiter würden in Luthers Abwesenheit an die Front gerufen, um die Reformation ausgewogener zu machen.

Außerdem besteht bei jeder reformatorischen Bewegung die Gefahr, dass sie eher menschlich als göttlich geprägt wird. Freut man sich nämlich über die Freiheit, die durch die Wahrheit kommt, verherrlicht man bald die Menschen, die Gott eingesetzt hat, um die Ketten des Irrtums und des Aberglaubens zu sprengen. Man lobt, preist und ehrt sie als Anführer. Sind sie nicht wirklich demütig, hingebungsvoll, selbstlos und unbestechlich, fühlen sie sich allmählich weniger von Gott abhängig und beginnen, auf sich selbst zu vertrauen. Bald versuchen sie, Gemüter zu manipulieren und Gewissen einzuschränken, und betrachten sich fast schon als einzigen Kanal, durch den Gott seiner Gemeinde Licht schenkt. Das Werk der Reform wird durch diesen Fan-Geist oft verzögert.

In der Geborgenheit der Wartburg ruhte Luther eine Zeit lang aus und freute sich über den Abstand zum Schlachtengetümmel. Von den Burgmauern blickte er zu allen Seiten auf dunkle Wälder, dann wandte er seine Augen zum Himmel und rief aus: »Seltsame Gefangenschaft! Freiwillig in Gefangenschaft und doch gegen meinen Willen!« »Betet für mich«, schreibt er an Spalatin. »Ich will nichts als Eure Gebete. Stört mich nicht mit dem, was in der Welt über mich gesagt oder gedacht wird. Endlich komme ich zur Ruhe.«

Die Einsamkeit und Abgeschiedenheit dieser Bergzuflucht hatte noch einen anderen und kostbareren Segen für den Reformator. So stieg ihm der Erfolg nicht zu Kopf. Fern war jede menschliche Stütze, er wurde weder mit Sympathie noch mit Lob überschüttet, die oft zu schlimmen Ergebnissen führen. Obwohl Gott alles Lob und alle Ehre empfangen sollte, lenkt Satan die Gedanken und Gefühle gezielt auf Menschen, die bloß Gottes Instrument sind. Er stellt sie in den Mittelpunkt und lenkt von der Vorsehung ab, die alle Ereignisse steuert.

Hier liegt eine Gefahr für alle Christen. Wie sehr sie auch die edlen, selbstaufopfernden Taten von Gottes treuen Dienern bewundern mögen: Gott allein soll verherrlicht werden. Alle Weisheit, Fähigkeit und Gnade, die der Mensch besitzt, erhält er von Gott. Ihm sollte aller Lobpreis gelten.

Gesteigerte Produktivität

Luther war nicht lange zufrieden mit der Ruhe und Erholung. Er war an ein Leben der Aktivität und Auseinandersetzung gewöhnt. Untätigkeit war für ihn unerträglich. In diesen einsamen Tagen sah er den Zustand der Kirche vor sich. Er spürte, dass niemand auf den Mauern stand und Zion aufbaute. Wieder dachte er an sich. Er fürchtete, ihm sei Feigheit vorzuwerfen, wenn er sich von der Arbeit zurückzog, und warf er sich vor, zu träge und bequem zu sein. Gleichzeitig leistete er täglich scheinbar Übermenschliches. Er schreibt: »Ich lese gerade die Bibel auf Hebräisch und Griechisch. Ich möchte eine deutsche Abhandlung über die Ohrenbeichte schreiben, auch übersetze ich die Psalmen weiter und verfasse eine Predigtsammlung, sobald ich das Gewünschte aus Wittenberg erhalten habe. Meine Feder steht nie still.«

Während seine Feinde sich schmeichelten, dass er zum Schweigen gebracht worden war, staunten sie über den greifbaren Beweis seiner andauernden Aktivität. Eine Vielzahl von Traktaten aus seiner Feder zirkulierten in ganz Deutschland. Fast ein ganzes Jahr lang ermahnte und tadelte er, geschützt vor dem Zorn aller Gegner, die vorherrschenden Sünden seiner Zeit.

Er leistete auch einen höchst wichtigen Dienst für seine Landsleute, indem er den Urtext des Neuen Testaments ins Deutsche übersetzte. So konnte Gottes Wort auch vom einfachen Volk verstanden werden. Sie konnten alle Worte des Lebens und der Wahrheit jetzt selbst lesen. So war er besonders erfolgreich, um alle Augen vom Papst in Rom auf Jesus Christus umzulenken, die Sonne der Gerechtigkeit.

Aus Signs of the Times, 11. Oktober 1883

Lies weiter: Reformationsserie Teil 17: Wie Fanatismus alles wieder zu zerstören drohte: Neue Strategie gegen Martin Luther

Zurück zu Teil 1

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Ich stimme der Speicherung und Verarbeitung meiner Daten nach EU-DSGVO zu und akzeptiere die Datenschutzbedingungen.