Das Blutbad in Edom. Von Kai Mester
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Wer folgenden Textabschnitt des Propheten Jesaja liest, fühlt sich erst mal ganz im Alten Testament angekommen. Doch kann es sein, dass jeder ihn erst mal durch die Brille der eigenen Erfahrung liest, die er mit zornigen Menschen gemacht hat? Durch die Brille seiner eigenen Ängste?
Wer ist der, der von Edom kommt, mit rötlichen Kleidern von Bozra, der so geschmückt ist in seinen Kleidern und einherschreitet in seiner großen Kraft? »Ich bin’s, der in Gerechtigkeit redet, und bin mächtig zu helfen.« Warum ist denn dein Gewand so rotfarben, sind deine Kleider wie die eines Keltertreters? »Ich trat die Kelter allein, und niemand unter den Völkern war mit mir. Ich habe sie gekeltert in meinem Zorn und zertreten in meinem Grimm. Da ist ihr Blut auf meine Kleider gespritzt, und ich habe mein ganzes Gewand besudelt. Denn ich hatte einen Tag der Rache mir vorgenommen; das Jahr, die Meinen zu erlösen, war gekommen. Und ich sah mich um, aber da war kein Helfer, und ich war bestürzt, dass niemand mir beistand. Da musste mein Arm mir helfen, und mein Zorn stand mir bei. Und ich habe die Völker zertreten in meinem Zorn und habe sie trunken gemacht in meinem Grimm und ihr Blut auf die Erde geschüttet.« (Jesaja 63,1-5)
Ist das der zornige Gott, von dem sich ein Großteil der Menschen abgewandt hat? Einige sind Atheisten oder Agnostiker geworden. Andere konzentrieren ihre Anbetung auf Jesus als sanftmütigen Gott des Neuen Testaments oder Maria als mitfühlende Mutter, die nach kirchlicher Tradition immer noch lebt und die Bitten der Gläubigen empfängt.
Doch was sagt das Neue Testament über diesen Textabschnitt?
Ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit. Und seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt sind viele Kronen; und er trug einen Namen geschrieben, den niemand kannte als er selbst. Und er war angetan mit einem Gewand, das in Blut getaucht war, und sein Name ist: Das Wort Gottes. Und ihm folgten die Heere im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Seide. Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen, und trägt einen Namen geschrieben auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herren. (Offenbarung 19,11-16)
Und der Engel setzte sein Winzermesser an die Erde und schnitt die Trauben am Weinstock der Erde und warf sie in die große Kelter des Zornes Gottes. Und die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten, und Blut floss von der Kelter bis an die Zäume der Pferde, tausendsechshundert Stadien (etwa 300 Kilometer) weit. (Offenbarung 14,19-20)
Zwei Szenen, die im Zusammenhang mit der nahenden Rückkehr des Messias zu unserem Planeten beschrieben werden. Gottes Zorn ist also ganz aktuell und die Weinkelter tritt Gott tatsächlich durch seinen Messias selbst.
Doch geht es hier vielleicht um etwas viel Tieferes und Reineres als um Rachegedanken? Zorn bedeutet für viele Menschen Hass, Kontrollverlust, Maßlosigkeit, Grausamkeit. Der Zornige quält sein Opfer und empfindet Genugtuung dabei.
Die Prophezeiung Jakobs über Juda lässt da ganz anders aufhorchen: »Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der komme, dem es gehört, und ihm werden die Völker anhangen. Er wird seinen Esel an den Weinstock binden und seiner Eselin Füllen an die edle Rebe. Er wird sein Kleid in Wein waschen und seinen Mantel in Traubenblut.« (1. Mose 49,10-11) Klingt sehr positiv!
Ich habe einige Aussagen bei Ellen White gefunden über Jesus als denjenigen, der die Kelter allein trat. Gerne möchte ich sie nun mit dir anschauen:
Jesus trat die Kelter schon als Kind
»Durch Kindheit, Jugend und Mannesalter ging der Messias allein. In seiner Reinheit, in seiner Treue trat er allein die Kelter des Leidens; und unter den Menschen war niemand bei ihm. Doch jetzt ist es uns vergönnt, eine Rolle in dem Werk und Auftrag des Gesalbten zu spielen. Wir können das Joch mit ihm tragen und gemeinsam mit Gott Arbeiter sein.« (Signs oft he Times, 6. August 1896, Absatz 12)
Jesus hat uns ja gesagt: »Wer mich sieht, der sieht den Vater.« (Johannes 14,9) Gottes zorniges Keltertreten scheint also mehr mit Leiden als mit Hassen zu tun zu haben. Jesus litt unter den Sünden seiner Mitmenschen – und das nicht nur, weil diese ihn ablehnten, verlachten und unterdrückten, sondern weil er mit ihnen mitfühlte, als steckte er in ihrer Haut und hätte ihre Sünden selbst begangen. Er nahm ihre Schuld auf sich und setzte sich für ihre Befreiung ein.
… als er seinen Dienst begann
»Vierzig Tage und vierzig Nächte fastete er und ertrug dabei die heftigsten Angriffe der Mächte der Finsternis. Er trat die ›Kelter allein, und von den Menschen war niemand bei‹ ihm (Jesaja 63,3). Nicht für sich selbst, sondern damit er die Kette zerbrechen könnte, die die Menschen als Sklaven an Satan bindet. (Amazing Grace, 179.3)
Gott schreckt vor keiner Selbstverleugnung und -aufopferung zurück, um das Böse mit Gutem zu überwinden. Ist also Zorn Gottes sein leidenschaftlicher Eifer, seine heiße Liebe, die jeden Menschen vor Sünder und Sündern retten will und da, wo der Mensch sich nicht retten lässt, unfassbar leidet?
Jesus trat die Kelter in Gethsemane
»Unser Erlöser trat die Kelter allein, und von allen Menschen war niemand bei ihm. Die Engel, die den Willen des Gesalbten im Himmel erfüllt hatten, möchten ihn gerne trösten. Doch was können sie tun? Solche Trauer, solche Qualen liegen jenseits ihrer Fähigkeit zu lindern. Sie haben niemals die Sünden einer verlorenen Welt empfunden, und mit Erstaunen sehen sie ihren geliebten Meister vom Kummer niedergeworfen.« (Bible Echo, 1. August 1892, Abs. 16)
Ist Gottes Zorn also tiefe Trauer, tiefe Qual, tiefstes Mitgefühl wie Jesus sie in Gethsemane (deutsch: Ölpresse) erlebte? Doch Gott wird durch solche Depression nicht lustlos, in sich gekehrt, voller Selbstmitleid, unfähig zum Handeln. Bis zum letzten Moment schenkt er den Sündern permanent Lebensatem, lässt ihr Herz schlagen, ihr Gehirn funktionieren, schenkt Augenlicht, Redegabe, Muskelkraft, versucht sie zu motivieren, zur Umkehr zu bewegen, selbst wenn sie alles gegeneinander in schlimmster Grausamkeit einsetzen und es zum Blutbad kommt. Er selbst »blutet« dabei als Erstes und am meisten.
»Die Prophetie hatte verkündet, dass der ›Mächtige‹, der Heilige vom Berg Paran, die Kelter allein treten sollte; ›von den Menschen war niemand‹ bei ihm. Mit seinem eigenen Arm brachte er Erlösung; er war bereit für das Opfer. Die furchterregende Krise war vorüber. Die Qual, die nur Gott ertragen könnte, hatte der Messias [in Gethsemane] getragen.« (Signs of the Times, 9. Dezember 1897, Abs. 3)
Zorn Gottes ist Opferbereitschaft, das übermenschliche Ertragen von Qualen, die Jesus in Gethsemane spürte, woran ihm aber am Kreuz das Herz brach. »Des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.« (Jakobus 1,19) Gott wird allein die Menschen als sein Eigentum versiegeln, »die da seufzen und jammern über alle Gräuel« (Hesekiel 9,4), die in Jerusalem – seiner Gemeinde, ja seiner Welt – geschehen. Denn die sind mit seinem Geist erfüllt, erleben göttlichen Zorn, sind eins mit Gottes Empfinden: nur Mitgefühl, nur leidenschaftlich selbstlose Retterliebe.
… und auf Golgatha
»Er trat die Weinkelter ganz allein. Von all den Menschen stand ihm keiner bei. Während die Kriegsknechte ihre schreckliche Arbeit verrichteten und er die größten Seelenängste erlitt, betete er für seine Feinde: ›Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!‹ (Lukas 23,34) Jene Bitte für seine Feinde umfasste die ganze Welt und schloss jeden Sünder bis zum Ende der Zeit ein.« (Geschichte der Erlösung, 211.1)
Niemand hat uns so deutlich Gottes Vergebungsbereitschaft gezeigt wie Jesus, sein fleischgewordenes Wort, sein hörbar gemachter Gedanke. Im Herzen hat Gott jedem Sünder vergeben, denn das ist sein Wesen. Seine Vergebungsbereitschaft hört nicht auf. Ihre Grenze ist nur dort erreicht, wo der Sünder davon nichts wissen will oder einen Freispruch sucht, der sein Herz nicht verändert. Und gerade solche Vergebungsbereitschaft leidet am meisten, spornt zu höchstem Rettungseinsatz an, so als würde jemand immer tödlichere Wassermassen in solche Kanäle leiten, dass Rettungswillige geschützt werden und so viele Rettungsunwillige wie möglich sich doch noch retten lassen. Dies tut Gott unter größten Opfern.
»Wie Adam und Eva aus Eden verbannt wurden, weil sie Gottes Gesetz übertreten hatten, so sollte der Messias außerhalb der Grenzen des Heiligtums leiden. Er starb außerhalb des Lagers, wo Verbrecher und Mörder hingerichtet wurden. Dort trat er die Kelter des Leidens allein, trug die Strafe, die auf den Sünder hätte fallen sollen. Wie tiefgründig und bedeutsam sind die Worte: ›Christus hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist.‹ Er ging hinaus außerhalb des Lagers und zeigte damit, dass er sein Leben nicht nur für die jüdische Nation, sondern für die ganze Welt gab (Youth Instructor, 28. Juni 1900).« (Seventh-day Adventist Bible Commentary, 934.21)
Golgatha war Gottes allergrößtes Opfer. In seinem Sohn erlitt der Vater das Schicksal der Gottlosen sozusagen am eigenen Leib. Kein Sünder kann mit Recht behaupten, er sei gegenüber Gott in einer bemitleidenswerteren Position. Im Gegenteil: Kein Geschöpf – nicht einmal Satan – ist in der Lage in seinem begrenzten Geist die Folgen aller einzelnen Sünden in allen Facetten zu ermessen und zu spüren. Nur der allmächtige, allwissende und allgegenwärtige Gott ist dazu imstande.
»Der Erlöser trat die Kelter des Leidens allein, und unter all den Menschen war niemand bei ihm. Und doch war er nicht allein. Er hatte gesagt: ›Ich und mein Vater sind eins.‹ Gott litt mit seinem Sohn. Der Mensch kann das Opfer, das der unendliche Gott auf sich genommen hat, indem er seinen Sohn der Schande, der Qual und dem Tod auslieferte, nicht begreifen. Dies ist der Beweis für die grenzenlose Liebe des Vaters zu den Menschen.« (Spirit of Prophecy 3, 100.1)
Grenzenlose Liebe, unfassbares Leiden. Das sind die Hauptmerkmale von Gottes Zorn. Die Bereitschaft, die Entscheidung seiner Geschöpfe zu respektieren, und sie in ihrem Untergang rennen zu lassen, ja ihre Grausamkeit sogar so zu kanalisieren, dass sein Rettungsplan dadurch noch besser zum Zuge kommt. Alles das ist Gottes Zorn.
Zum Abschluss eine Paraphrase unseres Eingangsabschnitts:
Wer kommt da vom Schlachtfeld, mit rötlichen Kleidern von Bozra, der so geschmückt ist in seinen Kleidern und einherschreitet in seiner großen Kraft? »Ich bin’s, der in Gerechtigkeit redet, und Macht hat zu retten.« Warum ist denn dein Gewand so rotfarben, sind deine Kleider wie die eines Keltertreters? »Ich bringe ein blutiges Opfer, das kein Mensch bringen kann. Ich bin mit den Völkern durch tiefes Leid mitgegangen in meiner leidenschaftlichen Retterliebe, habe ihnen meinen Sohn geschickt, ihn selber tiefstes Leid erleben lassen, um mich ihnen auf Augenhöhe zu offenbaren. Entweder wurden sie in dieser Weinkelter durch »mein Blut« von ihrem alten Ich befreit oder ihre Verweigerungshaltung wird sie umbringen. In jedem Fall ist ihr Blut auch mein Blut, allzu deutlich offenbart im Blut meines Sohnes. Es ist auf die Kleider meines Herzens gespritzt, und ich habe mein ganzes Seelengewand mit diesem Geschehen besudelt. Denn ich hatte mir vorgenommen, das Problem durch meine völlige Hingabe endgültig zu lösen; das Jahr, die Meinen zu befreien, war gekommen. Und ich sah mich um, aber da war kein Helfer, und ich war bestürzt, dass niemand mir beistand. Da musste mein Arm mir helfen, und meine leidenschaftliche Entschlossenheit stand mir bei. Ich habe die Menschen oft bis zum bitteren Ende spüren lassen, was die Konsequenzen ihrer Gottferne sind, so aufgewühlt war ich und habe sie in das Blutbad hineinschlittern lassen, das die logische Folge ihrer Entscheidungen war. Denn ich sehne mich danach, dass einige dadurch noch aufwachen und sich retten lassen und dass das tragische Kapitel der Sünde endlich zum Ende kommt.« (Paraphrase nach Jesaja 63,1-5)
Werden wir Teil der Bewegung, durch die Gott den Menschen heute diesen Einblick in sein Herz schenken will, damit sie sich in sein barmherziges und allmächtiges Wesen verlieben.
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