Zwischen Dornen und Herrlichkeit – das Herz Jesu in seinem Leiden: Die Psalmen öffnen ein Fenster in Jesu Seele

Dornenkrone
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Was fühlte Jesus in den Stunden seines Leidens? Das Kreuz war mehr als
Schmerz. Es war Liebe. Eine Einladung, neu hinzuschauen.
Von Stephan Kobes

Lesezeit: 20 Minuten

Stell dir vor: Du stehst dort.
Golgatha. Drei Kreuze. Wind treibt Staub über den Hügel.
Menschenmenge. Stimmen. Rohe Gewalt.
Und mitten in allem – einer, der schweigt.

Ein Mann, zerschlagen.
Ein König – entblößt.

Du schaust – aber verstehst du?

Was dort geschah, war mehr als nur eine Kreuzigung.
Es war nicht bloß ein Körper, der gebrochen wurde –
sondern ein Herz, das sich ganz verschenkte.

Wer das Kreuz verstehen will,
muss tiefer schauen als auf Nägel und Holz.

Denn das Entscheidende geschah nicht außen –
sondern innen.
In Jesus.
In seiner Seele. In seinem Ringen. In seiner Liebe.

Die Evangelien sagen dir, was geschah.
Die Psalmen zeigen dir, wie es sich anfühlte.

Sie sind Fenster in sein Herz – Einblicke in seine Gedanken, seine
Schmerzen, seine Liebe.

Wenn du wissen willst, wie tief seine Hingabe ging,
dann hör, was er in der Nacht sprach.

Komm mit – in eine Nacht, die heller ist als jeder Tag. Weil dort das Licht
der Welt sein Herz für dich geöffnet hat.

1. Gethsemane – Wo die Seele schreit

Es ist Nacht. Der Himmel ist klar, und der Vollmond steht still über dem
Ölberg. Sein Licht gleitet über die Hügel, über die alten Mauern
Jerusalems – und herab auf einen stillen Garten. Die Stadt schläft. Kein
Laut, nur das leise Rascheln der Olivenzweige. Jesus kniet im Staub. Dann
fällt er nieder – das Gesicht zur Erde. Seine Seele ist »betrübt bis an den
Tod«. Er spürt keinen Halt, keinen Trost mehr – nur das heranrollende
Dunkel des Gerichts, das Gefühl völliger Verlassenheit von Gott.

Seine Seele schreit auf unter dem Druck einer enormen Last:

»Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle! … Zieh mich
heraus aus dem tiefen Wasser! Sonst treibt die Strömung mich fort, der
Abgrund verschlingt mich.« (Psalm 69,2-3.15.16).

Sein Schweiß wird blutrot und fällt in großen Tropfen auf die kühle Erde.
Als Mensch schreckt er zurück vor dem letzten alles überbietenden Opfer.
Er ringt mit dem Vater: »Ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir
vorüber… doch nicht mein Wille, sondern deiner geschehe.« (Lukas 22,42)

Er weiß: Entweder er trinkt den bitteren Kelch – oder wir. Entweder er
wird verlassen – oder wir für immer.

Kein Mensch kann diesen Kampf kämpfen. Kein Engel darf helfen. Er ist
allein.

Und doch: Er sagt Ja. Das Ja, das die Himmel öffnet. Das Ja, das die Erde
erlöst.

2. Verraten und verlassen – Einsam unter Freunden

Dann plötzlich: Die Fackeln flackern. Schwerter klirren.
Ein Mob bahnt sich den Weg in den Garten, bewaffnet mit allen möglichen
Geräten.

Mitten unter ihnen steht Judas – einer der Zwölf. Ein Freund.
Er nähert sich Jesus, nimmt seine Hand wie ein vertrauter Freund und
küsst ihn.

Dann: Jesus, der Liebenswerte – er wird gefesselt wie ein Verbrecher.

Der Arm, der einst in Kraft strahlte (»Dein Arm ist voll Heldenkraft, deine
Hand ist stark« Psalm 89,14), wird nun gebunden. Er ist nicht mehr
Lehrer, nicht Wundertäter – nur noch Gefangener.

Allein.
Verlassen.
Ohne Verteidigung.

»Übles Gesindel hat mich umringt. Sie binden mir Hände und Füße. Wie
sich ein Löwe in seine Beute verbeißt, so halten sie mich fest und geben
meine Hände und Füße nicht mehr frei.« (Psalm 22,17)

Die Wachen halten ihn fest – grob, erbarmungslos. Sie drängen ihn
vorwärts – hinein in die Nacht der Verachtung.

Und während das Echo des Verrats noch in der Luft liegt,
wird Jesus vor Gericht gezerrt.
Man führt ihn zum Hohen Rat.
Zu Hannas.
Zu Kaiphas.

Kein Zeuge für ihn. Kein Verteidiger. Kein Erbarmen.

Nur Spott.
Und ein Urteil, das längst gefällt ist.

Es ist Nacht. Und sehr dunkel.
Nicht nur um ihn – auch in den Herzen derer, die über ihn urteilen wollen.
Von einer Gerichtsverhandlung zur nächsten wird er geschleift – wie ein
Paket, das man loswerden will. Das Verhör der Nacht endet in einem
einstimmigen Urteil: Tod.

Um das Urteil von den Römern bestätigen zu lassen, schleppen sie ihn
weiter – durch die Straßen, hin zum römischen Statthalter – zu Pilatus.

3. Der Hof des Pilatus – Spott statt Gerechtigkeit

Der Morgen graut. Jesus steht im Hof des Statthalters. Er ist müde. Er hat
nicht geschlafen. Sein Gesicht ist bleich vom Nachtkampf. Seine Hände
sind eng gebunden.

Pilatus schaut ihn an. Ein römischer Richter. Kalt. Berechnend.
Und doch – etwas irritiert ihn.
»Ich finde keine Schuld an ihm«, sagt er.

Aber die Priester drängen. Die Gewalt beginnt. Sie schlagen ihn. Sie
spucken ihn an. Sie verhöhnen ihn – mit Worten, mit Fäusten, mit Blicken.

Und Jesus?
Er steht da – ohne Widerwort.
Ohne Flucht. Ohne Hass.
Wie ein Lamm vor seinen Schlächtern (Jesaja 53,7).

»Ich habe mich nicht gesträubt und bin meiner Aufgabe nicht
ausgewichen. Meinen Rücken habe ich hingehalten, als man mich schlug;
ich habe mich nicht gewehrt, als sie mir den Bart ausrissen.« (Jesaja
50,5-6) »Hart haben sie mir zugesetzt von Anfang an … doch niemals
konnten sie mich vernichten.« (Psalm 129,1-2)

Die Soldaten hängen ihm einen Mantel um, drücken ihm eine Krone aus
Dornen auf.
Sie lachen, verneigen sich spöttisch, rufen:
»Sei gegrüßt, König der Juden!«

Er schweigt.
Er lässt es geschehen.

»Ich habe mich von ihnen beschimpfen lassen und mein Gesicht nicht
bedeckt, wenn sie mich anspuckten.« (Jesaja 50,5-6)

Ein Sturm aus Spott bricht los.
Die Masse tobt. Die Priester schreien.
»Weg mit ihm! Kreuzige ihn!«
Wie brüllende Löwen reißen sie ihre Mäuler auf (Psalm 22).

Er antwortet nicht.

Sie reißen an seinen Kleidern. Sie treiben ihn hin und her.
Sie schlagen ihn.

»Die mich ohne Grund hassen, sind mehr, als ich Haare auf dem Haupt
habe. Die mich verderben wollen, sind mächtig.« (Psalm 69,5)

Vor den Augen der Menge wird er gegeißelt.
Er ist geschwächt. Ausgeliefert. Allein.

Er trägt es – still.
Der Rücken blutet.
»Den Rücken haben sie mir aufgerissen wie ein Feld, in das man Furchen
pflügt.« (Psalm 129,3)

Aber die Stimme, die einst Tote auferweckte, bleibt leise.
Der Mund, der Frieden sprach, schweigt.

»Meine Feinde umstellen mich wie eine Herde Stiere, wie wilde Stiere
umzingeln sie mich und kommen mit aufgerissenem Maul auf mich zu.«
(Psalm 22,13.14)

Die Stimmen brüllen: »Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!« »Fort mit ihm!«
Wie wilde Tiere, auf Beute aus.
Der Mob tobt – sie zerren ihn hin und her. Sie packen ihn wie ein Stück
Fleisch – ohne Ehrfurcht, ohne Anstand. Aber das Lamm bleibt still.
Er weicht nicht zurück. Sein Oberkörper entblößt, und sein Rücken übersät
mit langen, grausamen Striemen.

Und doch – gerade in dieser grausamen Stunde lag eine Schönheit auf
seinem Gesicht, wie nie zuvor.
Ein Gefangener – und doch stand er da wie ein König auf seinem Thron.
Nicht gebrochen – aber willig.
Nicht schwach – aber sanft.

»Seht, euer König!« (Johannes 19,14)

Wer dieses Gesicht je sah, vergaß es nie.
Da war Unschuld. Da war Ruhe. Da war Güte.
Das Abbild Gottes:

»Was für ein Mensch!« (Johannes 19,5)

Er hält es aus.

Warum?

»Sie meinen, ich hätte damit mein Unrecht eingestanden; aber der HERR,
der mächtige Gott, steht auf meiner Seite. Deshalb mache ich mein
Gesicht hart wie einen Kieselstein und halte alles aus.« (Jesaja 50,7)
Er schweigt, damit dein Herz hören lernt, wie tief Gottes Liebe wirklich ist.

4. Der Kreuzweg – Der Starke wird schwach

Das Urteil ist gesprochen.
Sie führen ihn hinaus – durch enge Gassen, vorbei an grölenden
Menschen.
Sie legen ihm das Kreuz auf die Schultern.
Schweres Holz.
Doch nicht seine Schuld – unsere.

Er trägt es.
Der, dessen Schultern die Herrschaft trägt (Jesaja 9,5),
bückt sich nun unter der Last des Fluches.
Seine Schultern – wund, offen, schmerzend vom Geißelhieb.

Die Haut aufgerissen.
Das Blut läuft.
Und doch geht er los –
einen Schritt. Noch einen.

Doch dann versagen die Kräfte.
Er fällt.
Die Last drückt ihn nieder.

»Meine Stärke vertrocknet wie Scherben, meine Zunge klebt mir am
Gaumen …« (Ps. 22,15–16)

Er fällt. Nicht aus Schwäche. Aus Erschöpfung.

Er liegt im Staub – der König auf dem Boden.

»Ich bin erschöpft … meine Kehle brennt.« (Psalm 69,4)
Er kann alleine nicht mehr aufstehen.

Da halten sie einen Mann an – Simon von Kyrene.
Er muss helfen. Muss das Kreuz mittragen.
Nicht aus Mitgefühl. Nur, damit Jesus weitergeht. Nur, damit er das Ziel
überhaupt noch erreicht.

Langsam bewegt sich der Zug durch die Straßen.
Schreie. Lärm.
Die Menge ist rau.
Worte wie Messer. Blicke wie Peitschen.
Aber Jesus schweigt.

»Ich bin zum Stadtgespräch geworden, und die Betrunkenen lästern über
mich. Sie verhöhnen mich in ihren Saufliedern.« (Psalm 69,13)

Seine Füße – die einst wie Golderz leuchteten (Offenbarung 1,15) –
schleifen durch den Staub.
Seine Beine – einst wie Marmorsäulen (Hoheslied 5,15) – schwanken. Die
Schritte sind schwer.
Aber sein Blick bleibt nach vorn gerichtet. Nicht auf das Kreuz – sondern
auf das Ziel.

Jeder Schritt ist ein stiller Akt der Liebe.
Jede Wunde ein geöffneter Weg.

»Und doch konnten sie mir meine Würde nicht nehmen, denn Gott, der
HERR, verteidigt mich.« (Jesaja 50,7)

Die Welt sieht einen Geschwächten.
Gott sieht den Gehorsamen.
Wir sehen Schmerz.
Er zeigt Liebe.

»HERR, du Gott Israels, enttäusche nicht die, die mit dir rechnen!« (Ps.
69,7)

Noch scheint der Himmel verschlossen.
Noch ist kein Ende in Sicht.
Aber Jesus geht weiter –
für dich.
Aus Liebe.

Das Ziel kommt näher – der Augenblick, an dem die Liebe siegen wird.

5. Gekreuzigt – Die Hände durchbohrt, das Herz gebrochen

Sie kommen an.
Der Hügel – karg, steinig, draußen vor der Stadt.
Golgatha.

Jesus wird auf das Holz gelegt.
Seine Hände werden ausgestreckt. Niemand protestiert.
Die Werkzeuge liegen bereit: Hammer. Nägel.
Dann – der Schlag.

Durch die Hand, die Kranke heilte.
Durch den Fuß, der dem Vater folgte.
Das Eisen geht durch Fleisch und Knochen.
Die Soldaten schlagen grob.

»Hunde sind sie, die mir keinen Ausweg lassen. Sie zerfetzen mir Hände
und Füße.« (Psalm 22,17)

Dann richten sie das Kreuz auf.

Es fällt in die Halterung – mit einem Stoß, der heftigste Schmerzen durch
seinen ganzen Körper jagt. Die Glieder zerreißen fast.

»Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, meine Knochen haben sich
voneinander gelöst. … Wie Wachs ist mein Herz, zerflossen in meiner
Brust.« (Palm. 22,15)

Er hängt.
Nackt. Verwundet.
Schweiß steht auf der Stirn.
Der Atem wird schwer.
Die Glieder zittern.

Aber sein Mund spricht:

»Vater, vergib ihnen – denn sie wissen nicht, was sie tun.« (Lukas 23,34)

Die Menge johlt.
Die Priester spotten:

»Er vertraute auf den HERRN – der soll ihn retten!« (Psalm 22,9)

Wer ihn sieht, lacht ihn aus.

»Alle Leute machen sich über mich lustig. Wer mich sieht, verzieht sein
Gesicht und schüttelt verächtlich den Kopf … Meine Knochen fallen
auseinander … Alle meine Rippen kann ich zählen; und sie stehen dabei
und gaffen mich an.« (Psalm 22,7.8.15.18)

Sie teilen sein Gewand.

Er sagt:

»Mich dürstet.« (Johannes 19,28)

»Mein Körper ist ausgetrocknet. Ich bin ohne Kraft.« (Psalm 22,16) »Statt
Nahrung haben sie mir Gift gereicht, mir Essig angeboten, um meinen
Durst zu löschen.« (Psalm 69,22)

Doch keine Hilfe kommt.

»Jede Hilfe ist weit entfernt. Ich schreie, doch du antwortest nicht.«
(Psalm 22,2–3)

»Schenk meiner Seele deine Nähe und erlöse mich.« (Psalm 69,19)

»Rette mich … und beschütze mein kostbares Leben.« (Psalm 22,21 NL)

Dann – ein Blick. Er sieht seine Mutter. Zärtlich sagt er:

»Frau, siehe, dein Sohn. … Siehe, deine Mutter.« (Johannes 19,26–27)

Die Stunden vergehen.
Der Schmerz wächst. Die Glieder krampfen. Sein Leib – angespannt bis
zum Zerreißen. Die Sünde drückt – bis in die letzte Faser.

»Die Schande bricht mir das Herz, sie macht mich krank.« (Psalm 69,21)

»Meine Kraft schwindet wie Wasser, das versickert, und alle meine
Knochen sind wie ausgerenkt.« (Psalm 22,15)

Das Gesicht ist blutig von Schlägen und Misshandlung und der
Dornenkrone. Die Wunden an seinen Händen klaffen weit auf, während
das Gewicht seines Körpers an seinen Händen zieht. Sein Atem geht
schwer und gepresst.

Aber er bleibt still.

»Meine Augen erlöschen – ich aber warte weiter sehnsüchtig auf meinen
Gott.« (Psalm 69,4)

Jeder kann seine stille Würde sehen – und das Erbarmen, mit dem er
denen vergibt, die ihn quälen.

Ein König am Kreuz – und seine letzte Rettungstat

Dann die Stimme: »Herr, gedenke an mich, wenn du in deiner
Königsherrschaft kommst!« (Lukas 23,41)

Ein Verbrecher bittet ihn um Gnade.
Jesus antwortet – liebevoll, königlich:

»Wahrlich, ich sage dir heute: Du wirst mit mir im Paradies sein.« (Lukas
23,43)

Man nahm ihm alles – die Ehre, das Gewand, das Leben. Doch eins blieb
unantastbar:
Seine Liebe. Und die ließ sich nicht verbergen!

Hinter dem entstellten Gesicht –
ein Glanz, der nicht vergeht.
Denn wer genau hinsieht,
erkennt:

Hier leidet nicht nur ein Mensch – hier offenbart sich der König.

Der Schönste unter Zehntausenden

Hast du ihn gesehen?

Nicht im Staub. Nicht am Kreuz.
Sondern in der Herrlichkeit, die er hatte – ehe die Welt war.

Nicht Dornen. Nicht Dunkel.
Sondern Licht.
Majestät.

Die Seele, die ihn kennt, sagt:

»Mein Geliebter ist strahlend und kräftig, hervorragend unter
Zehntausenden.« (Hoheslied 5,10)

Seine Stimme – wie das Rauschen mächtiger Wasser (Offbarung 1,15).
Sein Gesicht – leuchtend wie die Sonne (Offbarung 1,16).
Seine Augen – sanft wie Tauben in Milch gebadet, wie Edelsteine in ihrer
Fassung (Hoheslied 5,12).
Sein Leib – wie Elfenbein, geschmückt mit Saphiren (Hoheslied 5,14).
Seine Arme – wie Goldbarren (Hoheslied 5,14). Seine Hand – voll Stärke
(Psalm 89,14).
Sein Bauch – eine Platte aus Elfenbein, bedeckt mit Lapislazuli (Hoheslied
5,14).
Seine Beine – stark und kunstvoll gefügt (Hoheslied 5,15).

Die Schrift malt ihn in Bildern aus Gold, Zedernholz, Saphir und Edelstein.

»Rings um ihn leuchtet es wie Sonnenlicht, darin verbirgt sich seine große
Macht.« (Habakuk 3,4)

Kein Engel ist wie er.
Er thront in unnahbarer Majestät –
umgeben von Licht, bekleidet mit Kraft.

Er – die Freude des Vaters.

Er war nicht wie wir – nicht einfach Mensch.
Er war der Abglanz der Herrlichkeit Gottes (Hebräer 1,3).

Er, der Schönste. Der Stärkste. Der König.

»Du bist wunderschön, mein Geliebter – voller Kraft, von Anmut
durchdrungen.« (Hoheslied 5,14–16)

Und dann?

Dann geschah das Unbegreifliche – Der Strahlende wird verhüllt. Er lässt
alles zurück – steigt hinab. Der Schönste unter Zehntausenden – nun
verachtet und verworfen:

»Er entäußerte sich selbst … und wurde gehorsam bis zum Tod.«
(Philipper 2,7–8)

Der, der mit einem Wort den Sturm stillte,
schweigt nun unter Misshandlung.
Der, der mit Berührung heilte,
lässt sich verwunden.
Der, der über Wasser ging,
bricht unter dem Kreuz zusammen.

Sein Leib – nicht mehr von Glanz umhüllt,
sondern von Staub, von Blut und von Schande.

Seine Gestalt – entstellt.
Sein Gesicht – angespuckt.
»Wir sahen ihn – aber er hatte keine Schönheit mehr.« (Jesaja 53,2)

Und doch war es derselbe.

Er gab die Herrlichkeit hin –
nicht weil man sie ihm nahm,
sondern weil seine Liebe größer war als seine Krone.

»Er war verachtet, ein Mann der Schmerzen.« (Jesaja 53,2–3)

Damit du verstehst: So kostbar bist du ihm,
dass er seine Schönheit hingab,
um deine Schande zu tragen.

»Ich habe dich erlöst –
du bist mein.« (Jesaja 43,1)

6. Der Tod – und doch ein Lob

Der Erlöser hängt am Kreuz. Der Schönste unter Zehntausenden.

Sein Haar – verklebt vom Blut.
Aus Händen und Füßen tropft das Leben –
Tropfen für Tropfen fällt es auf den Felsen,
in den das Kreuz getrieben wurde.

Dann kommt der tiefste Punkt.

Ein schärferer Schmerz zerriss sein Herz –
den kein Feind ihm zufügen konnte.

Der Himmel schweigt.
Und Jesus schreit:

»Mein Gott, mein Gott – warum hast du mich verlassen?« (Ps. 22,2)

Getrennt. Allein.
Nicht, weil der Vater ihn nicht mehr liebte –

sondern weil er trug, was dich von Gott trennt.

Aber nicht nur der Himmel war fern.
Auch auf der Erde blieb niemand.
Auch die Freunde ließen ihn im Stich.

Allein … Von allen über Nacht verlassen. Wie ein scharfer Stachel dringt es
ihm ins Herz:

»Ich wartete auf Mitleid, aber da war keiner; auf Tröster – aber ich fand
keinen … Selbst meine Brüder geben vor, mich nicht zu kennen und
behandeln mich wie einen Fremden.« (Psalm 69,21.9)

»Mein Herz verkrampft sich vor Angst« (Psalm 22,15)

Sein Herz ist zerrissen – nicht nur von Nägeln,
sondern von der bitteren Einsamkeit,
die nur einer kennt,
der einst geliebt wurde – und dann allein blieb.

Und doch bleibt er dort.
Für dich.

Zerschlagen – aber gehorsam.
Verlassen – aber voller Liebe.
Nicht festgehalten durch Nägel,
sondern durch seine Entscheidung.

Der Augenblick, an dem die Liebe siegte

Dann: ein Schrei, der die ganze Schöpfung erschüttert:
»Es ist vollbracht.«

Er stirbt – der, der das Leben selbst ist.
Doch sein letzter Atem ist kein Scheitern.
Es ist der Sieg.

»Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« (Lukas 23,46)

Das letzte Wort –
kein Ausbruch der Verzweiflung,
sondern ein Siegel der Vollendung.

Selbst im Sterben trägt er ein Lied in sich.
Ein leises Lob.
Psalm 22 – nicht nur Klage.
Es endet in Anbetung.
Und er betet bis zuletzt.

»Ich will den Namen des HERRN loben mit meinem Lied.« (Psalm
69,31)

Ein Soldat sieht ihn – und spricht, was niemand auszusprechen wagte:

»Wahrlich, das war der Sohn Gottes.« (Matthäus 27,54)

Der Schönste unter Zehntausenden –
für uns entstellt.
Aber gerade darin liegt seine Herrlichkeit.

Als der Himmel sich öffnete

Was am Kreuz geschah, war mehr als Schmerz.
Es war Liebe – in ihrer reinsten Form.
Jesus trug den Fluch –
damit du gesegnet bist (Galater 3,13–14).

Er schwieg unter dem Schlag –
damit du Gottes Stimme hörst:
»Du bist mein.«

Was dort geschah war mehr als ein Opfer.
Es war eine Liebeserklärung.
Mit dem Leben deines Erlösers unterschrieben.

Schau ihn an:
Die Arme – nicht zum Schlag erhoben,
sondern weit geöffnet,
um dich zu empfangen.

Der Leib – zerbrochen,
damit du heil wirst.

Das sind die ewigen Arme (5. Mose 33,27), die dich tragen.

Er wurde verlassen –
damit du angenommen bist.
Er wurde verwundet –
damit du heil wirst.
Er schwieg –
damit du nicht länger schweigen musst.

Denn dort am Kreuz,
wo der Himmel schwieg,
sprach Gottes Liebe am lautesten.

Gottes Liebe –
die sich selbst hingibt,
um dich heimzuholen.

»In Christus war Gott und versöhnte die Welt mit sich selbst.« (2.
Korinther 5,19)

Er hat gelitten – nicht nur sichtbar, sondern hörbar. Für dein Herz. Jede
Wunde, jeder Schmerz, jeder Atemzug am Kreuz spricht eine Sprache, die
du verstehen sollst:
Du bist geliebt.

Er flüstert dir zu:

Das Paradies ist geöffnet.
Der Vorhang ist zerrissen.
Der Weg ist frei.

Komm.
Tritt näher.

Schau noch einmal hin –
in dieses Gesicht, das du nicht vergessen kannst.
In diese Liebe,
die auf deine Antwort wartet.

Und du?
Wirst du ihm antworten? Mit deinem Vertrauen? Mit deinem ganzen
Leben?

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