Selbstlosigkeit im Praxistest: Und was, wenn es dein Vater wäre?

Selbstlosigkeit im Praxistest: Und was, wenn es dein Vater wäre?
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Ein Fremder bat zwei alleinstehende Frauen nach dem GYC-Kongress um eine Mitfahrgelegenheit. Von Melody Mason, Autorin des Buches Daring to Ask for More: Divine Keys to Answered Prayer (2014)

Ein alter, ungepflegt wirkender Mann humpelte an der Tankstelle in der Nähe von Flagstaff, Arizona zu unserem Auto herüber. Meine beste Freundin Valerie und ich waren gerade auf dem Heimweg vom GYC-Kongress in Phoenix.

Der Mann bat uns um eine Mitfahrgelegenheit zu der Stelle, wo er mit seinem Auto eine Panne hatte. Er trug einen Benzinkanister in der Hand.

Ich beäugte ihn etwas skeptisch und schaute dann auf unseren Rücksitz, der voller Essen und Reisegepäck war.
»Hmm … Ich weiß nicht, ob wir genug Platz haben«, begann ich.

Der Mann ging schnell weiter.

Er tat mir leid, aber ich wusste nicht, ob er mir leid genug tat, dass ich ihn mitnehmen würde. Als ledige junge Frau war es eigentlich eines meiner Prinzipien, keinen männlichen Tramper mitzunehmen, wenigstens nicht, wenn ich keine anderen Männer im Auto habe. Heutzutage passiert einfach zu viel. Daher war mir nicht wohl bei dem Gedanken, diesem Mann zu helfen, obwohl er so aussah, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun.

In der Zwischenzeit machte mir meine beste Freundin Valerie auf dem Beifahrersitz Gewissensbisse.

»Und was, wenn es dein Vater wäre?«, fragte sie. »Würdest du ihn nicht mitnehmen?«

»Bitte spiele nicht mit meinen Gefühlen!«, erwiderte ich scharf, vielleicht sogar zu scharf. »Ich nehme keine Männer mit!«
Es entstand eine Pause. »Ich denke wirklich, dass wir ihm helfen sollten, Mel! Er sieht nicht so aus, als wäre er gefährlich.«
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns schon von den Zapfsäulen entfernt und warteten auf eine Lücke im Verkehr, um aus der Tankstelle auf die Hauptstraße hinauszufahren. Der ältere Herr, der uns um eine Mitfahrgelegenheit gebeten hatte, überquerte jetzt gerade die Straße vor uns mit dem Benzinkanister in der Hand. Wegen des starken Verkehrs hatte ich Zeit zum Nachdenken und sagte: »Gut, ich mache den Rücksitz frei. Wir nehmen ihn mit.«

»Ich habe einen Asthmanfall«

Ein paar Sekunden später konnten wir auf die Straße hinausfahren und hielten neben dem Mann an. Er lief in dieselbe Richtung, in die wir fuhren. Wir öffneten die Tür und er stieg ein, scheinbar unter Schmerzen. Dann fiel mir sein keuchendes Atmen auf.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Valerie.

»Ich habe einen Asthmaanfall. Ich habe mein Spray im Wagen vergessen«, antwortete er keuchend.

Er sah richtig blass aus und in seinen Augen stand Angst geschrieben. Vielleicht Angst nicht zu überleben, bis er sein Spray hat? Ich wusste es nicht.

Wenige Augenblicke später hielten wir an seinem liegen gebliebenen Wagen. Es waren nicht mal 150 Meter gewesen. Eine ältere Dame wartete im Auto. Er sprang aus dem Wagen und suchte sofort sein Spray. Es lag auf dem Vordersitz. Aahh! Was für eine Erleichterung auf seinem Gesicht, als er es inhalierte. Er würde weiterleben!

Als wir wegfuhren, waren wir beide still, doch Tränen stiegen mir in die Augen. Schließlich liefen sie mir über die Wangen. Valerie streckte die Hand aus und wischte sie mir vorsichtig weg.

»Was geht in dir vor, Mel?«, fragte sie besorgt.

Schließlich sprach ich: »Ich wusste nicht, wie hartherzig ich manchmal sein kann! Ich bin kein freundlicher Mensch, wenigstens nicht so freundlich, wie ich es sein sollte.« Immer noch flossen die Tränen.

»Wenn wir nicht angehalten und den Mann mitgenommen hätten, wäre er vielleicht dort am Straßenrand gestorben. Er hat so verzweifelt nach dem Spray gegriffen, damit er wieder richtig atmen konnte. Und ich wollte ihm nicht helfen!«

»Wir wussten ja nicht, dass er einen Asthmaanfall hatte«, erwiderte Val sanft.

»Ich weiß, aber Gott wusste es. Darum hatte er uns ausgesucht, damit wir ihm helfen. Fast hätten wir das wegen meiner Hartherzigkeit unterlassen. Wenigstens hast du auf seine Stimme gehört …« Meine Stimme versagte.

Die ganze Situation wurde noch dadurch verschärft, dass die GYC-Redner auf dem Kongress vom 31. Dezember bis 4. Januar gerade über die Notwendigkeit, den Bedürftigen zu helfen viele vollmächtige Botschaften gebracht hatten. Oft war ich zu Tränen gerührt gewesen und hatte mir fest vorgenommen, mehr für die Leidenden und Bedürftigen zu tun. Viele andere junge Leute hatten ähnlich reagiert. Doch einer Predigt zuzustimmen, die davon handelt, Bedürftigen zu helfen und dann einem ungepflegt wirkenden Mann auf der Straße gegenüberzustehen sind halt zwei verschiedene Paar Schuhe. Gebe Gott uns die Kraft, mehr vom Evangelium umzusetzen!

Die Wirklichkeit der ganzen Situation und dass wir fast versäumt hätten, im entscheidenen Moment einzugreifen, beschäftigte mich eine Weile.

Immer noch unter Tränen und in der Hoffnung auf Zuspruch schickte ich einer engen Freundin eine SMS: »Ich bin so egoistisch«, schrieb ich gequält. »Ich möchte freundlicher sein – wie du.«

Obwohl meine Freundin nicht wusste, warum ich die SMS schrieb, hatte ihre Antwort Tiefgang.

»Alle unsere natürlichen Neigungen sind egoistisch, Mel. Das zu erkennen ist sogar schwerer, als sie zu überwinden. Doch nur, wenn wir es erkennen, kann Jesus uns beim Überwinden helfen. Sei also nicht zu streng mit dir!«

Wow! Genau das hatte ich gebraucht.

Danke Jesus, betete ich im Stillen. Danke, dass du mir geholfen hast, heute aufzuwachen und zu erkennen, was für ein schrecklicher Mensch ich wirklich bin, wenn es darum geht, Bedürftigen zu helfen. Hilf mir freundlicher und hilfsbereiter zu werden. Ich habe einen alten Vater und hoffe, dass man ihm auch hilft, wenn er mal in eine ähnliche Situation kommt.

»Alles, worin wir anderen gegenüber Vorteile haben – sei es durch Erziehung und Veredelung, Charakterstärke, christliche Ausbildung oder Glaubenserfahrung – verpflichtet uns denen gegenüber, die weniger Chancen hatten. Soweit es in unserer Macht steht, sollen wir ihnen dienen. Wenn wir stark sind, gilt es, die Hände der Schwachen zu stützen.« (Desire of Ages, 440)

Überraschende Nachrichten von Zuhause

Später am Tag, wir hatten noch viele Kilometer bis nach Hause vor uns, rief ich meinen Vater an, um zu hören, wie es ihm ginge.

»Ich komme gerade vom Zahnarzt. Mir wurde heute ein Zahn gezogen«, sagte er mir nach der Begrüßung. »Leider hatte ich mich verkalkuliert und mir ist das Benzin ausgegangen. Das Schlimme daran war, dass es hier in Arkansas gerade so bitter kalt ist. Doch Gott sei Dank hielt jemand an und nahm mich bis zur nächsten Tankstelle mit und brachte mich auch wieder zurück zu meinem Wagen.«

Wow! Fast versagte meine Stimme.

»Im Ernst?«, fragte ich ihn. »Dir ist unterwegs das Benzin ausgegangen?« Als ich seine Worte wiederholte, hob Valerie verständnisvoll die Augenbrauen. Ich wusste, was sie dachte.

Gott sei Dank hatte sich jemand um meinen Vater gekümmert und er war schon auf dem Heimweg, als ich mit ihm telefonierte. Doch die Lektion, die wir gerade durch den älteren Herrn gelernt hatten, der eine Mitfahrgelegenheit suchte, grub sich nun noch tiefer in unsere Herzen ein.

Valerie hatte mich gefragt: »Und was, wenn das dein Vater wäre, der die Mitfahrgelegenheit braucht?« Weder sie noch ich ahnten, dass mein Vater tatsächlich eine Mitfahrgelegenheit brauchte. Doch genauso wie Gott Val und mich gesandt hatte, um uns um den Vater einer anderen Person zu kümmern, so hatte er auch jemand gesandt, um sich um meinen Vater zu kümmern.

Selbstverständlich wird wohl keine von uns das Erlebnis mit dem älteren Herrn vergessen und auch nicht die Lektion, die Gott uns erteilt hat. Tatsächlich wünschen wir heute im Rückblick, wir hätten mehr getan, ihm vollgetankt oder  ihm etwas von unseren üppigen Vorräten geschenkt. Er sah so aus, als hätte er dafür dringendere Verwendung als wir. Doch als wir über die Situation nachdachten, sprachen wir darüber, wie wir in Zukunft besser und einfühlsamer helfen können. Vielleicht könnten wir mit Leckereien und religiöser Literatur ein paar Tüten füllen, die man leicht durchs Fenster dem Obdachlosen an der Straßenkreuzung herausreichen kann. Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir anderen helfen können, wenn wir ein weiches und williges Herz haben.

Doch die merkwürdigen Zufälle hörten nicht damit auf, dass meinem Vater das Benzin ausgegangen war. Zwei Tage später blieb auch Valeries Vater am Straßenrand in der Kälte liegen, diesmal mit einem Platten. Leider kam ihm niemand zu Hilfe. Stattdessen war er so lange zu Fuß unterwegs, bis er einen Ort fand, von dem er aus Hilfe holen konnte.

Wieder wurde uns bewusst, dass Gott uns bestätigen möchte, wie wichtig es ist, Bedürftigen zu helfen.

Ich spreche mich hier nicht dafür aus, dass wir jeden Tramper mitnehmen, den wir sehen. Als ledige Frau werde ich wohl immer noch keine älteren Männer mitnehmen, es sei denn, Gott legt es mir ausdrücklich ans Herz. Aber ich bete, dass Gott mir hilft, mehr auf Bedürftige zuzugehen.

Obwohl wir den Hintergrund des Fremden auf der Straße nicht kennen, ist doch jeder Mensch, der uns um Hilfe bittet, Vater, Mutter, Bruder oder Schwester von irgendjemand … und vor allem ein Kind Gottes.

»Und der König wird ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!« (Matthäus 25,40)

Aus Adventist Review, 13. Januar 2015, Melody Mason »What If He Was Your Father?«

Übersetzt mit freundlicher Genehmigung des Review und der Autorin
www.adventistreview.org/church-news/what-if-he-was-your-father

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