In dem aufrichtigen Bemühen zu helfen oder Hilfe zu finden, ist schon so mancher auf die schiefe Bahn geraten. Von Colin Standish († 2018)
[Anm. d. Redaktion: Dieser Artikel möchte uns sensibilisieren, damit wir bessere Seelsorger werden. Dass der Fokus hier auf Gefahren liegt, darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, wie extrem wichtig und segensreich die zwischenmenschliche Seelsorge ist, wenn sie vom Respekt gegenüber der Integrität des Hilfesuchenden geprägt ist. Wir brauchen mehr Seelsorger, die den Entmutigten begegnen, wie Jesus es tat.]
In den letzten 20 Jahren ist Beratung und Lebenshilfe zu einer gigantischen Multi-Millionen-Dollar-Industrie angewachsen. Mehr und mehr Männer und Frauen schlüpfen in die Rolle des Lebensberaters, Therapeuten oder Seelsorgers für Unzählige, die unter den verschiedensten seelischen und anderen Problemen leiden.
Die christliche Kirche war schnell zur Stelle, als sie merkte, dass immer mehr Menschen bei Psychologen und Psychiatern Rat suchen und sich von den Geistlichen abwendeten, die in der Vergangenheit traditionell die Rolle des Seelsorgers innehatten. Schon bald bemühten sich viele Pastoren, eine Weiterbildung in Lebensberatung zu machen. Sie hatten den natürlichen Wunsch, wirksame Seelsorge-Techniken zu entwickeln.
Lebensberatung ist keine neue Kunst. Im Alten wie im Neuen Testament finden sich viele Begebenheiten, bei denen einer dem andern Rat gab. In den Wirkungsjahren Jesu suchten ihn Männer wie Nikodemus und der Reiche Jüngling auf, um sich Rat für ihr ganz persönliches Leben zu holen. Zweifellos ist es gut, wenn Männer und Frauen sich gegenseitig beraten, um einander zu stärken und auf den Pfad der Gerechtigkeit zu führen. Seelsorge kann jedoch auch gefährlich werden, besonders da, wo Pastoren diese Art des Dienstes zum Mittelpunkt ihrer Arbeit machen. Es ist daher hilfreich, einige Gefahren zu kennen, die mit dieser Arbeit verbunden sind.
Achtung Bindungsgefahr!
Die wichtigste Aufgabe jedes von Gott berufenen Seelsorgers ist es, die Ratsuchenden in völlige Abhängigkeit von Gott zu führen – und nicht von Menschen. »Jedes Gemeindeglied soll erkennen, dass Gott der Einzige ist, bei dem es sich Klarheit über die eigenen Aufgaben holen soll. Es ist gut, dass sich Geschwister untereinander beraten. Sobald dir jedoch ein Mensch genau vorschreiben möchte, was du zu tun hast, antworte ihm, dass du dich da vom HERRN leiten lassen möchtest.« (Testimonies 9, 280; vgl. Zeugnisse 9, 263)
Ellen White weist auf die Gefahr der Abhängigkeit von Menschen hin. »Menschen laufen Gefahr, menschlichen Rat anzunehmen und dadurch Gottes Rat zu missachten.« (Testimonies 8, 146; vgl. Zeugnisse 8, 150) Dies ist die erste Gefahr in der Seelsorge. Deshalb tut der Seelsorger gut daran, darauf achten, dass er den Ratsuchenden nicht ungewollt dazu führt, sich auf ihn statt auf Gott zu stützen. Denn selbst der gottergebenste Ratgeber kann niemals Gottes Platz einnehmen. Nie war die Neigung so groß wie heute, auf Menschen zu schauen statt auf Gott. In vielen Fällen kann eine solche Abhängigkeit zur Schwächung der geistlichen und emotionalen Stabilität des Ratsuchenden führen. Schon so mancher war dermaßen abhängig von der Beratung des Seelsorgers, dass er bei Wegzug des Seelsorgers einen Verlust spürte, eine Leere und Angst, die nur durch eine ungesunde Abhängigkeit von einem bestimmten Menschen entstanden war.
Dieser Gefahr kann der Seelsorger aber aus dem Weg gehen, wenn er die Ratsuchenden immer wieder daran erinnert, dass er selbst die angesprochenen Probleme nicht lösen kann, er sie aber zum wahren Seelsorger und seinem geschriebenen Wort führen möchte. Das höchste Ziel des Seelsorgers sollte daher darin bestehen, den Blick der Ratsuchenden vom Menschen weg auf Gott zu wenden. Schon das kleinste Anzeichen, dass jemand in eine Abhängigkeit vom Seelsorger gerät, kann er schnell und liebevoll ansprechen, so dass der Ratsuchende Gott klar als seine sichere Stärke und Zuflucht erkennt.
Achtung Hochmut!
Die zweite Gefahr droht dem Seelsorger von seinem eigenen Egoismus. Wenn immer mehr Personen einen um Rat und Führung für ihr Leben bitten, kann man sich bald selbst zu wichtig nehmen. Dies stellt eine ernstzunehmende Bedrohung für das Seelenheil des Seelsorgers dar. Solch ein Egoismus, der einem unbekehrten Ich entspringt, gefährdet natürlich die eigene geistliche Entwicklung. Wenn man sich eine Rolle anmaßt, die Gott einem nicht zugewiesen hat, kann sich das fatal auswirken. »Gott wird sehr entehrt, wenn Menschen sich an seine Stelle setzen. Er allein kann unfehlbaren Rat geben.« (Testimonies to Ministers, 326)
Egoismus kann auch dazu beitragen, dass eine Bindung zwischen Ratsuchendem und Seelsorger entsteht. Denn je mehr er seine Hilfe lobt, desto größer das Risiko, dass dieser sich geschmeichelt fühlt – mit unguten Auswirkungen.
[Jesus hat uns beispielhaft vorgelebt, wie selbstlose Seelsorge aussieht und dass der herzliche Dienst am Mitmenschen, in keiner Weise hochmütig machen muss.]
Ablenkung vom Missionsauftrag
Ein weiteres Dilemma, in dem vor allem der Prediger steckt: Je mehr Zeit er mit dieser Arbeit verbringt, desto weniger Zeit hat er für den aktiven Missionsauftrag. Prediger gilt vor allem der direkte Auftrag Jesu: »Gehet hin in alle Welt … und predigt das Evangelium!«
[…] Es ist wichtig, zum Kern des Missionsauftrags zurückzukehren. Viele Prediger lassen sich allerdings so stark von Verwaltungsaufgaben und seelsorgerischer Beratung vereinnahmen, dass sie der direkten Verkündigung des Evangeliums und dem Vorwärtsstreben nach neuen Horizonten der Wahrheit immer weniger Zeit widmen können.
Es ist wichtig, dass jeder zum Predigtdienst Berufene seinen Auftrag versteht, nämlich Männern und Frauen von Jesus und seiner baldigen Wiederkunft zu erzählen. Allzu oft wird die gesamte Zeit des Predigers von der Seelsorge aufgebraucht. Dadurch ist es ihm unmöglich, die Aufgabe wahrzunehmen, zu der er in erster Linie ordiniert wurde.
Leider sind nicht wenige Prediger zu der Überzeugung gekommen, Seelsorge sei ihre Hauptaufgabe. Deshalb haben sie manche sogar ihren Predigerberuf aufgegeben, um hauptberuflich als Lebensberater zu arbeiten.
Es geht hier nicht darum zu richten, denn es kann auch triftige Gründe für solch eine Veränderung geben. Aber es ist äußerst wichtig für den Seelsorger, die eigenen Beweggründe zu untersuchen, die zu solch einem Wechsel führen oder geführt haben.
[Wenn jeder Gläubige seinen Mitmenschen auf Augenhöhe als seelsorgerlicher »Priester« dient, können Pastoren sich wieder mehr auf die Wortverkündigung konzentrieren. Dann kann Seelsorge auch in jeder Hinsicht gewaltfrei und respektvoll bleiben.]
Achtung Ansteckungsgefahr!
Die vierte Gefahr für den Seelsorger hat mit den Bedürfnissen der eigenen Seele zu tun. Vielleicht übersehen wir manchmal, dass nicht nur der Ratsuchende, sondern auch der Seelsorger empfänglich für mentale Einflüsse ist. Bei so mancher heute angewandten Seelsorgemethode setzt der Berater sich intensiv mit den lebendig geschilderten Details der Unmoral des Ratsuchenden und dessen sündigem und ausschweifendem Leben auseinander. Doch es ist dem geistlichen Wachstum des Seelsorgers abträglich, Tag für Tag solche Informationen zu hören, die auf das Geistliche zersetzend wirken. Sein eigenes ewiges Schicksal kann als Folge der Konzentration auf solche Dinge in Gefahr geraten. Wie leicht wird man da zum Beichtvater vieler Menschen. Doch diese Verantwortung hat Gott niemals einem Seelsorger auferlegt. Vermeiden wir daher das Verweilen bei sündigen Details! Weisen wir die Ratsuchenden vielmehr auf die wahre Quelle der Vergebung hin!
[Es bedarf viel Fingerspitzengefühl, einerseits ein guter Zuhörer zu sein, andererseits aus Respekt vor der Privatsphäre des Hilfesuchenden, diesen zu ermutigen, Sündendetails bei unserem himmlischen Vater abzuladen. Allein der Heilige Geist kann uns hier helfen, individuell richtig zu reagieren.]
Rückkehr zum klaren Wort
Der starke Wunsch nach menschlicher Lebensberatung unter Gottes Volk ist symptomatisch für die Glaubensarmut unserer Zeit. Männern und Frauen, denen die Anforderungen des Lebens schwer zusetzen, fehlt Jesu Friede, der allein Zufriedenheit bringen kann. Sie suchen bei Menschen nach Hilfe und Orientierung für ihr Leben. Dabei enthält die Bibel doch das beste Heilmittel gegen Entmutigung, Verzweiflung und mangelndes Vertrauen. Dieses Heilmittel spielt aber leider eine immer kleinere Rolle im Leben von vielen Christen. »So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.« (Römer 10,17)
Prediger sind eingeladen, ihren größten Einsatz zu bringen, indem sie die Gemeinden zu kontinuierlichem Studium von Gottes Wort führen. Nur so kann das Fundament für christliches Leben und christliche Entwicklung gelegt werden. Wenn wir etwas brauchen, dann ist es Gottvertrauen. Es ist das beste Heilmittel gegen geistlichen Niedergang, Ernüchterung und einen Lebensstil der Unabhängigkeit von Jesus.
[…]
Die echte Antwort
Die echte Antwort auf soziale, emotionale und geistliche Probleme findet man weder im Menschen selbst noch bei einem Mitmenschen sondern in Jesus. Sehr häufig versuchen Lebensberater, die Antworten in der Person selbst zu finden. Viele wenden eine modifizierte Form der Gesprächstherapie von Carl Rogers an. In dieser Therapieform wird der Therapeut zu einer Art Echowand, um so der bekümmerten Person zu helfen, selbst eine Lösung für das Problem zu finden, das sie zum Therapeuten geführt hat. Diese Vorgehensweise stammt aus der heidnisch-griechischen Philosophie, denn sie beruht auf der Annahme, dass sich im Geist jedes Individuums Wahrheit befindet, und dass der Mensch seine eigenen Antworten auf seine Bedürfnisse finden kann.
Andere verwenden das dynamischere Programm der Verhaltensmodifikation. Diese ist jedoch stark von den Wertevorstellungen des Seelsorgers abhängig. Der Seelsorger nimmt es auf sich, zu definieren, welche Verhaltensweise wünschenswert ist. Somit steht er in der Gefahr, sich dem Ratsuchenden gegenüber an Gottes Stelle zu setzen und ihn von der wahren Hilfsquelle, die er so nötig hätte, wegzuführen.
Die Rolle des Predigers als Seelsorger ist dringend neu zu beurteilen; seine Wirksamkeit und seine Grenzen, sodass Gottes Werk nicht von seinem wahren und fundamentalen Zweck abrückt – nämlich dem Abschluss des Missionsauftrags, der Wortverkündigung an die Welt, und der Botschaft, dass Jesus bald wiederkommt.
[Wenn wir uns der genannten Gefahren bewusst sind, kann Seelsorge eines der mächtigsten Werkzeuge sein, Menschen von ihren Ketten zu befreien, damit sie Leben in Fülle genießen können, nicht nur in dieser dunklen Welt, sondern auch in der Ewigkeit.]
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