»Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Von Ellen White
Als Luther erneut vor den Reichstag geführt wurde, lag auf seinem Gesicht keine Spur von Angst oder Verlegenheit. Dienstbereit und friedfertig, doch zugleich überaus mutig und bewundernswert stand er als Gottes Zeuge unter den Großen der Erde.
Der kaiserliche Beamte verlangte nun seine Antwort auf die zweite Frage: Würde er bereit sein, seine Bücher als Ganzes zu verteidigen? Oder wolle er einen Teil davon zurückziehen?
Die berühmte Rede
Luther antwortete sanft und demütig, ohne Gewalt oder Leidenschaft. Sein Auftreten war zurückhaltend und respektvoll, dennoch zeigte er eine Sicherheit und Freude, die die Versammlung überraschte.
Nachdem er den Reichstag um Nachsicht ersucht hatte, falls er aufgrund seines zurückgezogenen, klösterlichen Lebens irgendeine der üblichen höfischen Umgangsformen vernachlässigen sollte, erklärte er, seine veröffentlichten Werke hätten nicht alle den gleichen Charakter. In einigen habe er Glauben und gute Werke so schlicht, einfach und christlich behandelt, dass sogar seine Feinde gezwungen gewesen seien, sie nicht nur als harmlos, sondern auch als gewinnbringend anzuerkennen. Diese zurückzuziehen, hieße, Wahrheiten zu verurteilen, denen alle Parteien zugestimmt hätten.
Die zweite Gattung seiner Werke richte sich gegen das Papsttum und entlarve diejenigen, die durch Lehre und Vorbild das gesamte Christentum an Leib und Seele korrumpierten. Niemand könne leugnen oder verbergen, dass die Gesetze und Lehren der Päpste das Gewissen der Christen knechten, belasten und quälen. Roms unglaubliche Raubgier würde das Eigentum und den Reichtum des Christentums verschlingen – insbesondere der deutschen Nation. »Widerriefe ich das dazu Geschriebene, würde ich dann nicht diese Tyrannei stärken und vielen großen Ungeheuerlichkeiten Tür und Tor öffnen?«
Die dritte Klasse seiner Bücher richte sich gegen Personen, die die römische Tyrannei verteidigen und die Lehren angreifen, die er zu vermitteln suche. Hier gestehe er frank und frei, dass er sich heftiger ausgedrückt habe, als es sich gehöre. Er halte sich selbst für keinen Heiligen; aber selbst diese Bücher könne er nicht widerrufen, sonst würde er die Unfrömmigkeit seiner Gegner gutheißen. Sie würden die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und Gottes Volk mit noch größerer Grausamkeit vernichten.
Aber da er nur ein Mensch und nicht Gott sei, werde er sich wie einst der Messias mit den Worten verteidigen: »›Habe ich unrecht geredet, so sagt gegen mich aus.‹ (Johannes 18,23) Durch Gottes Barmherzigkeit bitte ich Eure kaiserliche Majestät oder jeden, der es wünscht und vermag, mir aus den Schriften der Propheten zu beweisen, dass ich im Irrtum bin. Sobald man mich überzeugt hat, werde ich sofort alle meine Fehler widerrufen und als Erster meine Bücher ins Feuer werfen.
Was ich soeben gesagt habe, zeigt wohl deutlich genug, dass ich alle Risiken gut überlegt und abgewogen habe. Statt mich von ihnen abhalten zu lassen, freue ich mich sehr daran, dass das Evangelium heute Grund für Unruhe und Meinungsverschiedenheit ist. Das war schon damals so. Gerade das macht ja Wesen und Bestimmung von Gottes Wort aus. Jesus sagte: ›Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.‹ (Matthäus 10,34) Gottes Ratschläge sind wunderbar und Ehrfurcht gebietend. Wehe uns, wenn wir in unserem Bemühen um Einigkeit gegen Gottes Heiliges Wort kämpfen und eine schreckliche Flut von unentrinnbarer Gefahren, gegenwärtigen Katastrophen und dauerhaften Verwüstungen über uns bringen. Tragen wir vielmehr dafür Sorge, dass die Herrschaft des jungen und edlen Kaiser Karl, auf den wir neben Gott so viel Hoffnung setzen, nicht unter denselben dunklen Vorzeichen weitergeht und endet, unter denen sie begonnen hat … Ich könnte von den Pharaonen sprechen, von den Königen Babylons oder Israels, die nie mehr zu ihrem eigenen Ruin beigetragen haben, als wenn sie durch scheinbar äußerst kluge Maßnahmen ihre Autorität zu begründen glaubten. ›Gott versetzt Berge, ehe sie es innewerden.‹ (Hiob 9,5)
Ich spreche nicht deshalb so, weil ich meine, die edlen Fürsten könnten meines schlechten Urteilsvermögens bedürfen; aber ich möchte meine Pflicht erfüllen, die Deutschland mit Recht von seinen Kindern erwarten darf. Indem ich mich Eurer erhabenen Majestät und Euren durchlauchtigen Hoheiten empfehle, bitte ich euch nun in aller Demut, zu verhindern, dass der Hass meiner Feinde mich mit Empörung überschüttet, die ich nicht verdient habe.«
Erst Deutsch, dann Latein
Luther hatte auf Deutsch gesprochen. Nun wurde er aufgefordert, dasselbe auf Latein zu wiederholen. Der Kaiser war kein Liebhaber des Deutschen. Auch war es für die spanischen und italienischen Höflinge schwer verständlich. Obwohl er durch seine Rede sehr erschöpft war, kam Luther der Bitte nach und wiederholte alles auf Latein mit der gleichen Klarheit und Energie. Indes lenkte Gott in seiner Vorsehung alles. Der Verstand vieler Fürsten war so sehr von Irrtum und Aberglauben geblendet, dass sie beim ersten Vortrag die Schlagkraft von Luthers Argumentation nicht gesehen hatten; bei der Wiederholung jedoch erkannten sie die dargelegten Punkte mit großer Klarheit. Gottes Geist brachte die Wahrheit ans Licht und hinterließ einen tiefen, bleibenden Eindruck. Die Reformation hatte einen Sieg errungen, der mit großer Macht gegen das Papsttum sprechen würde.
Werden Sie widerrufen oder nicht?
Alle, die hartnäckig die Augen vor dem Licht verschlossen, die sich auf keinen Fall von der Wahrheit überzeugen lassen wollten, waren über die Kraft von Luthers Worten erzürnt. Auch der Sprecher des Reichstags gehörte dazu. Als Luther seine Rede beendet hatte, sagte dieser Beamte verärgert: »Sie haben keine Antwort auf die Ihnen gestellte Frage gegeben. Die Entscheidung der Konzilien ist von Ihnen nicht in Frage zu stellen. Geben Sie eine klare und eindeutige Antwort: Werden Sie widerrufen oder nicht?«
Gott helfe mir!
Luther antwortete fest: »Da Eure durchlauchtige Majestät und Eure Gewaltigkeit von mir eine einfache, klare und direkte Antwort verlangen, so nehmt diese: Ich kann meinen Glauben weder dem Papst noch den Konzilien unterwerfen; denn es ist sonnenklar, dass sie sich oft geirrt und widersprochen haben. Wenn ich also weder durch Beweise aus der Heiligen Schrift noch durch triftige Gründe überzeugt werde; wenn sie nicht mit den Texten, die ich zitiert habe, übereinstimmen; und wenn mein Urteil nicht auf diese Weise dem Wort Gottes unterworfen wird, kann und werde ich nichts widerrufen. Denn es kann nicht richtig sein, dass ein Christ gegen sein Gewissen spricht.« Dann wandte er seine Augen zur Versammlung, vor der er stand und die sein Leben in Händen hielt, und sagte: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen!«
Fels in der Brandung
So steht dieser rechtschaffene Mann auf dem sicheren Fundament, den Propheten und Aposteln, mit dem Gesalbten selbst als wichtigstem Eckstein. Unerschütterlich und furchtlos steht der große Reformator auf seinem Posten. Treu unter den Treulosen, ungeachtet der Bosheits- und Rachestürme steht er wie eine mächtige Zeder auf dem Libanon unter den Bäumen des Waldes. Während die Leidenschaften und der Schmutz der Menge ihn wie Wellen der großen Tiefe umwogen, steht er, als vom Himmel errichteter Leuchtturm, um den gefährdeten Seefahrer vor der verborgenen Sandbank und dem felsigen Ufer zu warnen.
Luther weiß nicht, was ihm bevorstehen mag; aber er weiß, dass die Wahrheit niemals scheitern kann. Falls nötig, ist er bereit zu sterben, wenn er im Tod der Wahrheit besser dienen kann als im Leben. Licht von Gottes Thron erleuchtete sein Antlitz. Seine Charaktergröße und -reinheit, sein Friede und seine Herzensfreude waren für alle sichtbar, als er gegen die Macht des Irrtums Zeugnis ablegte und die Überlegenheit des Glaubens bezeugte, der die Welt überwindet.
Als der Reformator zu sprechen aufhörte, verharrte die ganze Versammlung eine Zeit lang in ungläubiger Starre. Mehrere der Fürsten waren von seiner Offenheit und seinem Seelenadel bezaubert. Der Kaiser selbst rief tief beeindruckt aus: »Der Mönch spricht mit unerschrockenem Herzen und unerschütterlichem Mut!« Die Spanier und Italiener waren verwirrt und begannen, sich über die moralische Größe lächerlich zu machen, die ihr niederer und prinzipienloser Verstand nicht begreifen konnte.
Die Partisanen Roms waren geschlagen; ihre Sache erschien in höchst ungünstigem Licht. Sie versuchten, Machteinbußen zu verhindern, doch nicht, indem sie sich auf die Heilige Schrift beriefen, um Luther seinen Irrtum zu zeigen, sondern durch Drohungen, Roms unfehlbares Argument. Der Reichstagssprecher sagte wütend zu Luther: »Wenn Sie nicht widerrufen, werden der Kaiser und die Reichsstaaten sich der Frage stellen müssen, wie mit einem hartnäckigen Ketzer umzugehen ist.«
Luthers Freunde, die mit großer Freude seiner edlen Verteidigung zugehört hatten, zitterten bei diesen Worten; doch der Doktor selbst sagte entschieden: »Möge Gott mein Helfer sein! Denn ich kann nichts widerrufen.«
Luther zog sich während der Beratung der Fürsten zurück. Als er wieder hereingerufen wurde, wandte sich ihr Redner an ihn: »Martin, Sie haben nicht mit der Demut gesprochen, die Ihrer Situation angemessen gewesen wäre. Die Einteilung Ihrer Werke in Kategorien war unnötig; denn wenn Sie die fehlerhaften widerrufen würden, würde der Kaiser nicht zulassen, dass der Rest verbrannt wird. Es ist absurd zu verlangen, von der Heiligen Schrift widerlegt zu werden, wenn Sie Irrlehren wiederholen, die schon vom allgemeinen Konzil von Konstanz verurteilt sind. Der Kaiser befiehlt Ihnen daher, einfach Ja oder Nein zu sagen. Wollen Sie ihre Publikationen bestätigen oder irgendetwas daraus zurücknehmen?«
Luther antwortete ruhig: »Ich habe keine andere Antwort, als die bereits gegebene.«
Triumph!
Sie verstanden ihn vollkommen. Fest wie ein Fels stand er, während die heftigsten Wogen weltlicher Macht wirkungslos an ihm abprallten. Die schlichte Energie seiner Worte, seine furchtlose Haltung, sein ruhiger, vielsagender Blick und die unbeirrte Entschlossenheit, die in jedem Wort und jeder Handlung zum Ausdruck kam, hinterließen bei der Versammlung einen tiefen Eindruck. Es bestand nicht mehr die geringste Hoffnung, dass er durch Zuckerbrot oder Peitsche dazu gebracht werden könnte, dem Mandat Roms nachzugeben. Der Mönch hatte über die Herrscher dieser Welt triumphiert.
Karl V. erhob sich von seinem Thron, und die ganze Versammlung tat es ihm nach. »Der Reichstag trifft sich morgen früh erneut, um die Entscheidung des Kaisers zu hören«, kündigte der Kanzler an. Viele in dieser Gesellschaft waren von demselben Geist getrieben, der einst die Pharisäer inspirierte. Sie dürsteten nach dem Blut desjenigen, dessen Argumente sie nicht widerlegen konnten. Doch Luther, der seine Gefahr verstand, hatte zu allen mit christlicher Würde und Gelassenheit gesprochen. Seine Worte waren frei von Stolz, Leidenschaft und Falschdarstellung gewesen. Er verlor sich selbst und die großen Männer um sich her völlig aus den Augen und fühlte nur noch, dass er sich in der Gegenwart dessen befand, der Päpsten, Prälaten, Königen und Kaisern unendlich überlegen war. Der Messias, der in Luthers Herzen regierte, sprach durch sein Zeugnis mit einer Macht und Größe, die in der damaligen Zeit sowohl Freunde als auch Feinde mit Ehrfurcht und Staunen erfüllten. Gottes bekehrende Kraft war auf dem Konzil gegenwärtig und beeindruckte die Herzen der Reichsobersten.
Die Anhänger des Papstes fühlten sich besiegt und fragten wütend, warum der Reichstagskanzler den schuldigen Mönch nicht schon früher unterbrochen habe. Mehrere Fürsten bekannten offen, dass Luther Recht habe. Viele waren von der Wahrheit überzeugt; aber bei einigen blieb der Eindruck nur vorübergehend. Die gesäte Saat hatte nicht genug Boden; die Hitze des Widerstands ließ sie verwelken. Eine andere Gruppe brachte damals ihre Überzeugungen nicht zum Ausdruck – doch nachdem sie die Heilige Schrift für sich selbst recherchiert hatte, trat sie später mit großer Kühnheit für die Reformation ein.
Der Kurfürst Friedrich hatte dem Erscheinen Luthers vor dem Reichstag mit Besorgnis entgegengesehen und seiner Rede mit tiefer Ergriffenheit gelauscht. Er freute sich über den Mut, die Standhaftigkeit und die Selbstbeherrschung des Doktors und war stolz darauf, sein Beschützer zu sein. Für ihn hatte sich die Welt in zwei Parteien geteilt: auf der einen Seite Welt und Kirche in all ihrem Stolz und ihrer Macht; auf der anderen Seite ein einzelner unbekannter Mönch. Er sah, wie die Weisheit der Päpste, Könige und Prälaten sich durch die Macht der Wahrheit in Nichts auflöste. Das Papsttum hatte eine Niederlage erlitten, die unter allen Nationen und in allen Zeitaltern zu spüren sein würde.
Aus Signs of the Times, 30. August 1883
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