Warum wurde der Prophet Daniel so krank? Waren es die Begegnung mit Engeln und die Horrorszenen der Visionen? Oder enttäuschte Hoffnungen? War es der Schock darüber, dass erst mehr als 2300 Jahre später das Trauma der Tempelzerstörung gelöst werden würde? Von Kai Mester
Lesezeit: 13 Minuten
Ein Engel kündigt Daniel in einer atemberaubenden Vision an, dass das Heiligtum nach 2300 Abenden und Morgen wieder hergestellt oder gereinigt wird.
Viele Bibelleser sind der Meinung, dass man für diese Zahl in der Geschichte kein Anfangs- und kein Enddatum finden kann. Andere meinen diese Abende und Morgen hätten sich zur Zeit eines Seleukidenkönigs mit Namen Antiochus Epiphanes zugetragen. Nur Adventisten und Bahai-Gläubige meinen, dass sie im Jahr 1844 zu Ende gegangen sind.
Dieser Artikel beschäftigt sich nicht mit der genauen Berechnung dieses Datums, sondern schlüpft einmal in Daniels Haut. Wie hat er die 2300 Abende und Morgen verstanden? Was lösten sie bei ihm aus?
Der Leser ist herzlich eingeladen, die Bibelstellen nachzuschlagen, um optimal folgen zu können.
Die drei großen prophetischen Gesichte
Es gibt im Buch Daniel drei Kapitel, in denen die großen Weltreiche in Symbolen dargestellt werden: Nebukadnezars Traum vom Standbild aus Kapitel 2, die Meertiere in Daniels Vision aus Kapitel 7 und der Kampf zwischen Widder und Ziegenbock aus Kapitel 8.
In allen drei Kapiteln findet sich zuerst der Traum oder die Vision selbst, danach wird alles Vers für Vers erklärt, in Kapitel 2 von Daniel, in Kapitel 7 und 8 vom Engel.
Daniel wird krank
In Kapitel 8 erklärt der Engel aber nicht das Symbol der 2300 Abende und Morgen, das am Ende der Vision erwähnt wird. Er sagt nur, dass dieser Teil des Gesichts wahr ist und sich auf ferne Tage bezieht (Vers 26). Dann wird Daniel so krank, dass der Engel seine Erklärung abbrechen muss (Vers 27).
Zwei weitere Visionen zur Erklärung
Daniels Visionen in Kapitel 9 und 10–12 haben einen anderen Charakter als die ersten drei Visionen. Sie sind nicht aufgeteilt in einen Symbolteil und einen Erklärungsteil, sondern wir finden hier nur noch Erklärung. Das einzige, was Daniel »sieht« sind die erklärenden Engel. Handelt es sich also bei beiden Visionen um Erklärungen zu der Vision aus Daniel 8, einer Vision, die schon in ihrer Struktur auf Daniel 7 und 2 aufbaute?
Daniel 9,21 und 22 erklären deutlich, dass Gabriel ausschließlich deshalb gekommen ist, um seine Erklärung aus Daniel 8 fortzusetzen. Auch in Daniel 10,12 wird bestätigt, dass die folgende Vision die Erklärung noch weiter vertieft.
Die 2300 Abende und Morgen werden erklärt
In Daniel 8 werden zwei hebräische Worte für »Gesicht« gebraucht: Chasón und Mar’é. Mit Chasón ist die gesamte Vision gemeint, mit Mar’é nur der Teil über die Abende und Morgen. Chasón steht in Vers 1, 2, 13, 15, 17, 26b, aber auch in Daniel 9,21.24 und 10,14. Mar’é steht in Vers 16, 26a und 27, aber auch in Daniel 9,23 und 10,1.
Daniel 9,23 zeigt eindeutig, dass die Vision in Daniel 9 gezielt das Anliegen hat, die 2300 Abende und Morgen näher zu erklären. Aus Daniel 10,1 wiederum geht hervor, dass die letzte Vision Daniels dazu beiträgt, sein Verständnis der 2300 Abende und Morgen weiter zu vertiefen.
In Daniel 9 wird hauptsächlich der erste Abschnitt dieser Zeitkette erklärt. Denn es geht vor allem um den Wiederaufbau Jerusalems und das erste Kommen des Messias.
In Daniel 10–12 hingegen wird die gesamte Vision aus Daniel 8 tiefer erklärt, es geht dort nicht nur um das Mar’é (die 2300) aus Daniel 8, aber auch. Was diese Zeitkette betrifft, liegt der Schwerpunkt hier jedoch auf ihrem letzten Abschnitt, der Zeit des Endes, wie man vor allem an den drei Zeitketten in Daniel 12 sieht, und hier besonders an Vers 12: »Wohl dem, der ausharrt und 1335 Tage erreicht.«
In Daniel 9,24 zeigt das hebräische Wort nechtakh, dass die 70 Jahrwochen von einem längeren Zeitraum »abgeschnitten« sind. Offensichtlich handelt es sich hierbei um den ersten Teil der 2300 Abende und Morgen. Wenn nicht, würden die 2300 Abende und Morgen unverständlich bleiben und wir könnten nirgends in der Bibel ein Anfangsdatum für sie finden. Da aber alle Symbole in Daniels Visionen erklärt werden, müssen wir auch eine Erklärung für diese lange Zeitkette finden. Denn sie machte Daniel so zu schaffen, dass er sogar krank wurde. Schließlich hatte er sich erhofft, die Restauration seines Volkes würde wesentlich früher zustande kommen und nicht erst nach über zwei Jahrtausenden.
Prophezeiung für die Endzeit
In der Parallelstruktur der ersten drei Visionen in Daniel, steht die Restauration des Heiligtums nach 2300 Abende und Morgen genau an der Stelle, wo in Daniel 2 der Stein steht, der das Standbild zertrümmert, und in Daniel 7 die Thronszene zu sehen ist, in der Gericht gehalten wird.
Die Offenbarung und die 2300
Falls die Offenbarung wirklich auf Daniel aufbaut, und darauf deuten die verwendeten Tier- und Zahlen-Symbole hin, ist zu erwarten, dass auch dort das Thema des 2300-Gesichts (Mar’é) aufgegriffen und vertieft wird. Tatsächlich finden wir ab Offenbarung 4 die Thronszene wieder, und ab Offenbarung 9 tauchen auch wieder Zeitketten auf.
Die katastrophale Zerstörung des Tempels
Das Buch Daniel beginnt mit der Entführung Daniels, seiner Gefährten und der heiligen Tempelgeräte nach Babylon um 600 v. Chr. Gleich das Thema des ersten Kapitels in Daniel 1 ist zutiefst jüdisch. Denn es geht um die Reinheit der Speisen. Gute 10 Jahre zerstörte Nebukadnezar Jerusalem völlig.
Es ist zu erwarten, dass Daniel als tiefgläubiger Jude mit keiner Frage so beschäftigt war, wie mit der Bedeutung dieser Katastrophe. Das Buch Klagelieder spiegelt das Trauma wieder, dass die Juden hier erlebten. Es schien alles aus zu sein. Das Zentrum des jüdischen Glaubens, der Tempel, die Opfer, waren genommen.
Auf diesem Hintergrund nur kann das Buch Daniel verstanden werden. Selbst wenn Gott dem Daniel Dinge aus ferner Zukunft zeigen würde, müsste dieser doch alles zwangsläufig immer aus dem Blick dieser für ihn gegenwärtigen Katastrophe betrachten, sodass ihm einiges unverständlich blieb. Denn er fragte sich immer wieder: Wie geht es mit meinem eigenen Volk weiter?
Nebukadnezar trotzt dem Traum
Nebukadnezar scheint seinen Traum in Daniel 2 noch vor der Tempelzerstörung geträumt zu haben. Vielleicht ging Daniel deshalb noch recht souverän und voller Gottvertrauen zum König und bewahrte dadurch sich und seine Kollegen vor der Hinrichtung. Die Tempelzerstörung dann musste ihm schwer zu schaffen gemacht haben.
Nebukadnezar bekam durch seinen Traum Angst davor, dass sein Reich einem anderen weichen muss. In dem Standbild geht alles bergab, die Wertigkeit der Metalle sinkt und schließlich endet alles Irdische in Trümmern. Kein Wunder, dass er in so schlechter Stimmung war, als er aufwachte, und das obwohl er sich an den Inhalt des Traumes nicht mehr erinnern konnte. Nur die Gefühle wirkten noch in ihm nach. Beeindruckt von der Traumdeutung erlebte Nebukadnezar fast eine Art Bekehrung.
Doch bald schon war dies verblasst und er ließ aus Trotz das goldene Standbild anfertigen, das seinen Traum abwandelte: Babylon sollte ein ewiges Reich bleiben. Keine Religion durfte dies in Frage stellen. Die Standhaftigkeit von Daniels Freunden und ihre Rettung aus dem Feuerofen ließen ihn erneut bereuen.
Doch noch ein Mal packte ihn der Stolz, obwohl er durch einen weiteren Traum davor gewarnt worden war. Die sieben Jahre Psychose, die er daraufhin durchlitt, müssen Daniel an den siebenfältigen Fluch erinnert haben, der Israel in 3. Mose 26 angekündigt wurde, falls es durch Stolz und Sünde von Gott abfallen sollte. Doch wie hoffnungsvoll: Nebukadnezar wurde nach den sieben Jahren wieder gesund. Könnte auch das Volk Israel so von seiner »Psychose« geheilt werden – nach sieben Zeiten? Vielleicht hat Daniel gehofft, dass sich das nach den siebzig Jahren (sieben Jahrzehnten) erfüllen würde, die Jeremia für die babylonische Gefangenschaft vorausgesagt hatte.
Nach fünfzig Jahren in Babylon
Als Daniel seine zwei großen Visionen bekam (Daniel 7+8), war Jerusalem schon über dreißig Jahre zerstört und er selbst schon etwa fünfzig Jahre in Gefangenschaft. Jetzt zu hören und zu sehen, dass nach Babylon noch drei Reiche kommen, von denen das letzte dreieinhalb Zeiten (Daniel 7,25) herrschen würde über die Heiligen (in seinen Augen natürlich die Juden), muss für Daniel unerträglich gewesen sein. In den Visionen wurde ja auch überhaupt kein Hinweis darauf gegeben, dass Jerusalem schon vorher wieder aufgebaut oder die Juden nach Israel zurückkehren könnten.
Außerdem wird in Daniel 7 das Königreich (Israel) erst beim Gericht über das kleine Horn dem »Menschensohn« übergeben (Vers 13.14). Sicherlich hat Daniel in ihm sofort den Messiaskönig erkannt. Bedeutete das, dass Jerusalem erst nach vielen Jahrhunderten wieder auferbaut würde? Der letzte König Zedekia war umgekommen. Dabei war David doch verheißen worden, dass sein Königtum kein Ende haben würde …
Die Krankheitsursache
Kein Wunder, dass es über Daniel schon im siebten Kapitel heißt: »Ich, Daniel, wurde deshalb in meinem Geist zutiefst beunruhigt, und die Gesichte meines Hauptes ängstigten mich. Ich näherte mich einem der Umstehenden und erbat von ihm sichere Auskunft über das alles … Mich, Daniel, erschreckten meine Gedanken sehr, und mein Gesicht verfärbte sich; aber die Sache behielt ich in meinem Herzen.« (Daniel 7,15.16.28)
Jetzt stelle man sich vor, was in Daniel vor sich ging, als er hörte, dass auch das Heiligtum erst nach 2300 Abenden und Morgen wieder restauriert würde. Ihm muss bewusst gewesen sein, dass es sich bei den Zeitangaben um symbolische Zeiten handelte, die wie in Mose und Hesekiel nach dem Jahr-Tag-Prinzip ausgelegt werden müssen. Schließlich tauchten diese Zeitangaben ja in hochsymbolischen Zusammenhängen auf. Und außerdem machten sie wörtlich keinen Sinn, denn dann hätten sie ja nur Zeiträume zwischen 3,5 und etwa 7 Jahren umspannt. Und schon allein Babylon hatte nun bereits fünfzig Jahre gewährt.
In Daniel 8 wird mehrmals gesagt, dass das Gesicht auf die Zeit des Endes geht. Des Endes der babylonischen Gefangenschaft? Jesaja hatte sogar vorausgesagt, dass der Messiaskönig, der Befreier, den Namen Koresch (griechisch Kyros) tragen würde (Jesaja 44,28). Er würde Stadt und Tempel wieder aufbauen. Daniel hat ganz bestimmt das Buch Jesaja studiert und er wartete nun auf diesen Messias.
Jetzt bestätigt der Engel aber nachdrücklich, dass die Sache mit den 2300 Tagen stimmt und sich das Gesicht auf »fernliegende« Tage bezieht (Daniel 8,26). Das muss Daniel den letzten Rest gegeben haben. Denn erst dann wird berichtet, dass er mehrere Tage krank lag, entsetzt war über das Gesicht und auch seine jüdischen Mitbrüder sich die Sache nicht erklären konnten (Vers 27).
Nach fast siebzig Jahren Babylon
Wer bis hierher immer noch im Zweifel darüber ist, ob es wirklich der Zeitfaktor war, der Daniel so viel Kopfzerbrechen bereitete, der bekommt jetzt den Beweis: In Daniel 9 beschäftigt sich Daniel nun mit der 70 Jahr-Prophezeiung des Propheten Jeremias (Kapitel 9,2). Und deshalb betet und fastet er. Fast verzweifelt bekennt er die Sünden seiner Väter und Mitbrüder und erinnert Gott an die Zusage in Jeremia 25,12ff und 29,10. Die siebzig Jahre sind inzwischen fast um. Wie sieht’s nun aus?
Es geht also Daniel um sein Volk Israel (Daniel 9,15.19), um Gottes Stadt Jerusalem und um seinen heiligen Tempelberg (Vers 16). Es geht ihm um Gottes verwüstetes Heiligtum (Vers 17). Daniel kann die zeitlichen Ausmaße der vorigen Visionen einfach nicht verstehen und einordnen.
Wenn dann der Engel Gabriel in Vers 22 sagt: »Jetzt bin ich ausgegangen, um dich Verständnis zu lehren«, dann muss doch klar sein, dass jetzt eine Erklärung kommt, die sich um den Faktor Zeit dreht. Denn genau damit kämpft Daniel.
»Abgeschnitten« ist nicht nur eine Bedeutung von vielen des Wörtchens nechtakh, wie manche behaupten. Das ist falsch! »Abgeschnitten« ist die Grundbedeutung, alles andere sind Abstraktionen oder Übertragungen von »abschneiden«.
Denn durch Abschneiden trennt man auch etwas, zum Beispiel das Gute vom Bösen oder die Wahrheit von der Lüge und kommt dadurch auch zu einem Urteil. Durch Abschneiden kann man auch einen Abschnitt fest zuordnen und dadurch kann man das Verb auch als »bestimmen« oder »festsetzen« übersetzen. Ein weiterer Hinweis auf die Grundbedeutung ist, dass von diesem Verb die Wörter Schnitt, Wunde, Abschnitt, Einschnitt abgeleitet werden.
Mit allem, was wir bisher gesagt haben, kann es nicht anders sein, als dass die 70 Jahrwochen, die nun erklärt werden, von einer längeren Zeitperiode abgeschnitten sein müssen.
Der Messias kommt erst in 400 Jahren
Im dritten Jahr des Kyros erhält Daniel eine weitere Vision. Nun erfährt er, dass Jerusalem erst 49 Jahre nach dem Erlass zu seinem Wiederaufbau ganz auferbaut sein und der eigentliche Messias noch weitere rund vierhundert Jahre auf sich warten lassen wird. Langsam beginnt er die Informationen einzuordnen. Die Vision enthält noch viel ausführlichere Erklärungen, die ihm alle Zusammenhänge verständlich machen, denn es heißt: »Und er verstand das Wort und bekam Verständnis für das Gesicht.« (Daniel 10,1)
Nun würde man das Ende der 2300 Abende und Morgen berechnen können, sobald der Erlass zum Wiederaufbau ergangen sein würde. Es war dann das Jahr 457 v. Chr., und die Rechnung führte ins Jahr 1844.
Die 1290 und 1335 Tage
Die letzten Worte des Engels im Buch Daniel enthalten schließlich zwei neue Zeitweissagungen, die die 2300 aus Daniel 8 nun mit den dreieinhalb Zeiten aus Daniel 7 verbinden (Daniel 7,25; 12,7). Aufgrund aller Dinge, die bis jetzt in diesem Artikel gesagt wurden, müssen die 1290 und 1335 Tage (12,11.12) speziell mit dem Ende der 2300 Abende und Morgen zusammenhängen. Denn der Anfang der Zeitkette wurde vom Engel bereits ausführlich erklärt.
Die dreieinhalb Zeiten und die 1290 Tage geben Antwort auf die Frage nach der Endzeit. Die dreieinhalb Zeiten stellt die Herrschaftszeit des Papsttums über die Heiligen des Allerhöchsten dar (538–1798). Die 1290 Tage enden mit demselben Datum, beginnen aber bereits mit der Beseitigung des »Beständigen« und der Aufrichtung des »Gräuels der Verwüstung« im Jahre 508.
Wenn dann unmittelbar danach vom Glück derjenigen gesprochen wird, die 1335 Tage erreichen, dann muss vom selben Ausgangsjahr 508 aus gerechnet werden, und man kommt in das Jahr 1843. Dieses letzte Jahr vor der großen Enttäuschung 1844 war für viele Menschen das glücklichste, das sie je erlebt haben. Zu ihnen gehörte Ellen White.
Dass man wie die Jünger Jesu damals eine falsche Vorstellung hatte von dem, was am Ende der Prophezeiung geschehen würde, hatte Gott in seiner Weisheit eingeplant. Sowohl die Jünger als auch die Adventisten erlebten eine große Enttäuschung. Doch sie wurde in beiden Fällen zur herrlichen Enttäuschung.
Dazu empfehlen wir das wertvolle Buch von C. Mervyn Maxwell, Die herrliche Enttäuschung.
Daniel jedenfalls durfte seinen Schock über diesen mehr als 2000 Jahre langen Aufschub, bis zur Reinigung des Heiligtums, schließlich überwinden. Er verstand Gottes Plan und durfte sein irdisches Leben mit innerem Frieden beschließen. Denn der letzte Vers seines Buches lautet: »Du aber, Daniel, geh dem Ende entgegen, und ruhe, bis du aufstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage!« (Daniel 12,13)
1844 ist wirklich biblisch, nicht nur mathematisch und historisch, sondern auch was die persönliche Erfahrung Daniels betrifft.
Schreibe einen Kommentar