David gegen Goliath … Von Ellen White
Am 23. Juni 1520 richtete Luther einen Aufruf an den Kaiser und die Adeligen von Deutschland zur Reformation des Christentums. In seinem Aufruf erklärte er: »Die römischen Katholiken haben jeglicher Reformationsbestrebung drei Hindernisse in den Weg gestellt: Wenn sie von der weltlichen Obrigkeit angegriffen werden, sprechen sie ihr die Zuständigkeit ab und behaupten, ihre geistliche Obrigkeit sei übergeordnet. Wenn sie aus der Schrift heraus getadelt werden, erwidern sie, allein der Papst könne die Schrift auslegen. Wenn ihnen mit einem Konzil gedroht wird, antworten sie: Niemand außer dem souveränen Pontifex darf ein Konzil einberufen.«
Über den Papst schrieb er in seinem Aufruf: »Es ist ungeheuerlich, dass der selbsternannte Stellvertreter Christi sich in solcher Pracht und Herrlichkeit inszeniert, dass kein Kaiser mithalten kann. Will er damit den armen und bescheidenen Jesus repräsentieren oder den demütigen Sankt Petrus? Der Papst soll der Herr der Welt sein? Doch Christus, als dessen Stellvertreter er sich rühmt, sagte: ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt.‹ Sollte die Macht des Stellvertreters die seines Herrn übertreffen?«
Luther warnt vor bibellosen Bildungseinrichtungen
An die Universitäten gerichtet, sagte Luther: »Ich fürchte sehr, dass die Universitäten sich als große Tore zur Hölle erweisen, wenn sie nicht sorgfältig die Heilige Schrift erklären und sie den Herzen der jungen Leute einprägen. Ich rate niemandem, sein Kind an einen Ort zu schicken, wo die Heilige Schrift nicht als Lebensregel geachtet wird. Mit jeder Einrichtung, wo man Gottes Wort nicht sorgfältig studiert, wird es unweigerlich bergab gehen.«
Dieser Aufruf verbreitete sich rasch in ganz Deutschland und hatte einen großen Einfluss auf das Volk. Die ganze Nation wurde aufgerufen, sich um die Fahne der Reformation zu scharen. Luthers Gegner, die auf Rache brannten, drängten nun den Papst, scharfe Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Der Pontifex und seine Höflinge kamen dieser Bitte gegen besseres Wissen nach, und es wurde verfügt, dass Luthers Lehren sofort verdammt wurden. Sechzig Tage wurden dem Reformator und seinen Anhängern als Frist gesetzt. Danach würden sie exkommuniziert werden, falls sie nicht widerriefen.
Reformation in der Krise
Dadurch geriet die Reformation in eine schreckliche Krise. Seit Jahrhunderten war auf die Exkommunikation Roms immer schnell der Todesstoß gefolgt. Luther war für den Sturm nicht blind, der jeden Moment über ihn hereinbrechen musste, doch er stand fest und vertraute auf Jesus als Stütze und Schild. Mit dem Glauben und Mut eines Märtyrers schrieb er: »Was jetzt geschehen wird, weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen. Gewiss hat der, der im Himmel thront, schon von Ewigkeit her den Anfang, den Verlauf und das Ende dieser Sache gesehen. Möge der Blitz einschlagen, wo er will. Ich habe keine Angst. Kein Blatt fällt auf den Boden, ohne dass unser Vater es will. Wie viel mehr wird er sich um uns sorgen! Zu sterben ist nicht schlimm; denn das Wort, das Fleisch wurde, ist selbst gestorben. Wenn wir mit ihm sterben, so werden wir auch mit ihm leben; und wenn wir das durchmachen, was er schon vor uns durchgemacht hat, werden wir einmal dort sein, wo er ist, und für immer bei ihm wohnen.«
Als die päpstliche Bulle Luther erreichte, sagte er: »Ich verschmähe sie und widerstehe ihr. Sie ist gottlos und falsch. Jesus selbst wird in ihr verdammt. In ihr werden keine Gründe genannt. Man lädt mich vor, nicht um gehört zu werden, sondern um zu widerrufen. Möge Karl der V. seinen Mann stehen! Möge er um der Liebe Jesu willen diese Dämonen demütigen! Ich sonne mich in der Erwartung, für die beste Sache zu leiden. Mir ist schon freier ums Herz; denn ich weiß, dass der Papst der Antichrist ist und dass sein Thron dem Satan gehört.«
Die ganze Nation wartete mit gespanntem Interesse auf Luthers Reaktion. Aber sie musste nicht lange warten. Mit großer Energie und Kühnheit antwortete er umgehend mit einer Rede, die den Titel trug: »Gegen die Bulle des Antichristen«.
Doch das Wort des Pontifex von Rom hatte immer noch Macht. Gefängnis, Folter und Schwert waren wirksame Waffen, um sich Gefügigkeit zu erzwingen. Alles deutete darauf hin, dass Luthers Wirken dem Ende zuging. Die Schwachen und Abergläubischen zitterten vor dem Erlass des Papstes. Zwar hatte Luther die Sympathie der meisten auf seiner Seite, aber das Leben wollten sie für die Reformation doch nicht riskieren.
Mit kühlem Kopf und Frieden im Herzen
Mitten in dem allgemeinen Tumult blieb Luther ruhig und gelassen: »Sei guten Mutes«, sagte er zu Spalatin. »Jesus hat alles begonnen, und er wird es auch zu seinem festgesetzten Ende führen, sollte mir auch Verbannung oder Tod drohen. Jesus Christus ist hier bei uns. Er, der in uns ist, ist mächtiger als der, der in der Welt ist.«
Luther richtete seine Berufung nicht an den Papst, sondern in aller Form an ein allgemeines Konzil der christlichen Kirche. Nachdem er seine Gründe dafür genannt hatte, sagte er: »Deshalb ersuche ich aufs Demütigste die durchlauchtigsten, erlauchtesten, vorzüglichsten, weisesten und würdigsten Adeligen, Karl, den römischen Kaiser, die Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Barone, Ritter, Herren, Städte und Ortschaften der ganzen deutschen Nation, sich meinem Protest anzuschließen und sich mit mir gegen die antichristlichen Vorgänge des Papstes zu vereinigen, damit Gott verherrlicht sowie die Kirche, der christliche Glaube und die freien Konzile des Christentums verteidigt werden. Dann wird Christus, unser Retter, sie reich mit seiner ewigen Gnade belohnen. Doch wenn jemand meine Bitten in den Wind schlagen möchte, um lieber dem Papst, einem gottlosen Mann, zu folgen, statt Gott zu gehorchen, übernehme ich dafür keinerlei Verantwortung. Ich habe allen treu ins Gewissen geredet und überlasse sie sowie auch den Papst und alle seine Anhänger dem letzten Urteilsspruch Gottes.«
Ein symbolischer Akt von großer Tragweite: Die Verbrennung der Papstbulle
Sein nächster Schritt bestand darin, die Papstbulle mit dem Kirchenrecht, den Dekretalien und bestimmten Schriften, welche die päpstliche Macht stützten, zu verbrennen. Durch diese Aktion erklärte er mutig seine endgültige Trennung von der römischen Kirche. Er akzeptierte die Exkommunikation und verkündete der Welt, dass zwischen ihm und dem Papst von nun an Krieg herrsche. Der große Streit war nun völlig entbrannt.
Glauben gegen alle Widerstände
Von menschlichem Standpunkt aus ist der Weg der Pflicht und Gerechtigkeit kein Weg des Friedens und der Sicherheit. Durch den Glauben heißt es, dem HERRN zu folgen, wenn er uns voranführt. Doch könnten wir immer die ewigen Arme um und unter uns erkennen, bräuchten wir gar keinen Glauben üben. Der Weg, den Gott erwählt hat, mag dunkel erscheinen. Doch es ist der sicherste Weg zum Licht. Inmitten von offensichtlichem Unheil und katastrophaler Niederlage kommt Gottes Vorsehung doch Schritt für Schritt zum Ziel.
Der Adler in den Alpen wird manchmal vom Gewitter in die engen Bergschluchten hinabgedrückt. Die Gewitterwolken sperren den mächtigen Waldvogel ein; ihre dunklen Massen trennen ihn von den sonnigen Höhen, wo er sich seinen Horst gebaut hat. Seine Versuche zu entkommen scheinen vergebens. Er stößt hin und her, peitscht die Luft mit seinen starken Schwingen und weckt mit seinen Rufen das Echo der Berge. Doch schließlich schießt er mit einem Triumphschrei nach oben, durchbricht die Wolken und befindet sich wieder im hellen Sonnenschein. Sturm und Finsternis liegen nun tief unter ihm. Genauso haben sich schon immer Gottes auserwählte Diener durch gewaltige Anstrengungen ihren Weg nach oben erkämpft, Widerstand, Tadel und Verfolgung getrotzt in ihrem Kampf mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.
Als die Hand des HERRN über Hesekiel kam in der Vision vom Tal voller Totengebeine, wurde ihm geboten, dem Wind zu weissagen. Die Reaktion auf sein Wort war, dass die Erschlagenen wieder lebendig wurden und als übergroße Armee aufstanden. Dieses Bild wurde dem Propheten gezeigt, damit er verstand, dass für Gott kein Werk der Wiederherstellung zu schwer ist. Niemand, der ihm vertraut, muss jemals sagen, wie Israel es getan hat: »Unsere Hoffnung ist verloren.« (Hesekiel 37,11)
Wie der Adler war Luther unter der dichten Wolke des Aberglaubens und römischer Irrlehre eingesperrt gewesen. Der Sturm des Widerstands hatte ihm schwer zugesetzt; doch auf den Schwingen eines gewaltigen Glaubens hatte er die Sturmwolken durchbrochen und schwebte nun frei und grandios über den Wolken im Sonnenschein.
Martin Luther, ein Freiheitsheld
Unter dem breiten Schirm der Allmacht vollbrachte Luther ein gewaltiges Werk für Gott. Mitten im Krieg widerstreitender Meinungen stand er da wie ein Wegführer. Er bot einem verwirrten und umnachteten Volk Zuflucht. Er überreichte die am Altar von Gottes Wort entzündete Fackel der Wahrheit den Fürsten und Bauern, die ihn in seinem Werk unterstützten. Gemeinsam vertrieben sie die dichte Finsternis und ganz Europa erwachte aus seinem Jahrhundertschlaf.
Die gewaltigen Konflikte und Siege, der große Kummer und die besonderen Freuden, durch die Einzelne und ganze Völker auf dem Weg der Reformation und Errettung vorwärts getragen werden, sind überaus wichtig. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Solche Erfahrungen haben die Glaubenshelden zu viel gekostet. Sie werden sich nicht häufig in der Geschichte wiederholen. Man darf sie nicht mit einem Achselzucken abtun. Von jenem Ringen nach Gewissensfreiheit können alle lernen, dass Wahrheit, die Selbstverleugnung und Opfer erfordert, in dieser Welt unbeliebt ist. Teurer Einsatz wird von jeder Seele verlangt, die gegen den Strom schwimmt. Alle, die sich im Namen des Messias für die Wahrheit einsetzen, erleben einen Werdegang von Konflikten und Opfern. Sie können keine Fortschritte machen in der Reform, bei der Jesus führend vorangeht, es sei denn, sie setzen ihre Freiheit und ihr Leben aufs Spiel.
Durch göttliche Gnade wurden der Welt solche Menschen wie Martin Luther und seine Mitarbeiter geschenkt. Durch sie sind wir jetzt frei, Gott so anzubeten, wie es uns unser Gewissen vorschreibt. Wie sehr sollten wir, die wir so kurz vor dem Ende der Zeit leben, dem Beispiel dieser großen Reformatoren folgen. Wie Luther brauchen auch wir ein tiefes und gründliches Verständnis von Gottes Wort. Unser höchstes Ziel sollte es sein, felsenfest zu stehen, wenn die Festungen der Wahrheit von einer ungläubigen Welt und einer gottlosen Kirche attackiert werden. In dem bevorstehenden Konflikt sind Tausende gerufen, Luthers Standhaftigkeit und Mut nachzueifern. Jetzt ist es für uns an der Zeit, in der Schule des Messias ausgebildet und trainiert zu werden. Jetzt ist es an der Zeit, Glauben und Mut auszubauen. Lasst den Ruf unter den Wartenden von einem zum andern gehen: Gebt nicht auf! »Nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben.« (Hebräer 10,37)
Der ewige Fels
Gott wird noch einmal seine auserwählten Diener auf gewaltige Weise dazu bewegen, furchtbare Angriffe gegen die satanischen Armeen auszuführen. Die Männer, die er in seinem Werk aufnimmt, damit sie es voranbringen und seine Schlachten kämpfen, sind prinzipientreu, tapfer, standhaft und loyal. Die Bräuche, Traditionen und Lehren selbst von angeblich großen und guten Männern dürfen nicht ins Gewicht fallen, solange sie nicht dem unfehlbaren Test des Gesetzes und Zeugnisses unterzogen wurden. »Wenn sie nicht so sprechen«, dann deshalb, weil ihnen »kein Morgenrot mehr scheint.« (Jesaja 8,20 Schlachter, Menge) Dieser Prüfung wollten sich Päpste und Prälaten nicht unterziehen, weil sie wussten, dass dies ihrer ganzen angemaßten Macht sofort den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Um diese große Wahrheit aufrechtzuerhalten, zog Luther entschlossen und furchtlos in die »Schlacht«. Seine Worte hallen bis heute nach zu allen geprüften und angefochtenen Verteidigern der Wahrheit: Gebt nicht auf! »Denn an Gott dem HERRN habt ihr einen ewigen Felsen.« (Jesaja 26,4 Menge)
Die Reformatoren fanden in Jesus Unterschlupf vor den widrigen, wütenden und hasserfüllten Stürmen, die sie zu überwältigen drohten. In Jesus allein lag Friede, Kraft und Sicherheit. Das wird auch die Erfahrung jedes Christen sein. Mitten in allen Umwälzungen und Erschütterungen in der Welt bleibt der Fels unserer Rettung unverrückbar. Er ist von den vereinten Heeren der Erde und der Hölle angegriffen worden. Schon Jahrhunderte planten große Geister und wirkten starke Hände, um diesen großen Eckstein beiseite zu schieben und ein anderes Fundament für den Glauben der Welt zu legen. Der päpstlichen Macht ist dieses lästerliche Werk fast gelungen. Doch Gott erweckte Luther, damit er Tag und Nacht seinen Ruf erschallen ließ, während er an den Mauern Zions baute: »Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.« (1. Korinther 3,11) Dieser große Eckstein, der ewige Fels, steht noch heute unerschütterlich fest. Mitten im Chaos und in den Konflikten der Welt bietet Jesus dem Erschöpften Ruhe und der durstigen Seele Lebenswasser. Durch die Jahrhunderte erreichen uns seine Worte: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.«
Signs of the Times, 26. Juli 1883
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