Tierethik, ökologisches Bewusstsein und gesunde Ernährung durch die Brille von Torah und Koran: Vegetarismus im Judentum und Islam

Tierethik, ökologisches Bewusstsein und gesunde Ernährung durch die Brille von Torah und Koran: Vegetarismus im Judentum und Islam
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Zwei belebende Perspektiven für christliche Vegetarier. Von Kai Mester

Ist der Schritt für einen Juden oder Moslem, Vegetarier zu werden, nicht größer als für einen Christen? Gibt es nicht immerhin in ihren Religionen ein jährliches Fest, das mit dem Schlachten von Tieren verbunden ist? Das Passah im Judentum und das Opferfest im Islam?

Nun, auch die Christen schlachten traditionell die Weihnachtsgans und in Nordamerika den Thanksgiving-Truthahn. Tatsächlich verzeichnen die Juden unter den abrahamitischen Religionen den größten Prozentsatz an Vegetariern.

Judentum

Viele Juden lassen sich anscheinend von den biblischen Aussagen über Ernährung inspirieren:

»Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise … Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.« (1. Mose 1,29.31) So der Schöpfungsbericht über die ursprüngliche und beste, sprich gesündeste Kost für den Menschen.

»Was soll mir die Menge eurer Schlachtopfer?, spricht der HERR. Ich bin der Brandopfer von Widdern und des Fettes der Mastkälber überdrüssig, und am Blut der Jungstiere, Lämmer und Böcke habe ich kein Gefallen!« (Jesaja 1,11) – so die vom Propheten überbrachte Kritik an die Israeliten, weil ihr Opferkult zu reiner Formsache entartet war, doch nicht nur deshalb: Sein jüngerer Kollege Hesekiel erklärte, Gott habe keine Freude am Tod. »Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden.« (Hesekiel 18,32 ELB) Deshalb beschreibt Jesaja auch die neue Welt mit folgenden Worten: Der HERR »wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der HERR wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen.« (Jesaja 25,8) »Da wird der Wolf bei dem Lämmlein wohnen und der Leopard sich bei dem Böcklein niederlegen … Die Kuh und die Bärin werden miteinander weiden und ihre Jungen zusammen lagern, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind … Sie werden nichts Böses tun, noch verderbt handeln auf dem ganzen Berg meines Heiligtums; denn die Erde wird erfüllt sein von der Erkenntnis des HERRN, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken.« (Jesaja 11,6-9) Offensichtlich galt schon damals das Prinzip »fressen und gefressen werden« in jüdischen Augen letztlich als unvereinbar mit Gottes Charakter.

»Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen … Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind … Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.« (Jesaja 65,17-25) Der Mensch war also laut Torah am Anfang Vegetarier gewesen und würde laut der Propheten am Ende auch wieder Vegetarier sein. Warum, so fragen sich viele Juden heute, dann nicht schon jetzt? Schließlich werden auch der Prophet Daniel und seine drei Freunde inmitten einer fleischessenden Kultur als Vegetarier beschrieben, nein mehr noch: als Veganer (Daniel 1,12-21). »Und nach den zehn Tagen sahen sie schöner und kräftiger aus als alle jungen Leute, die von des Königs Speise aßen …Und der König fand sie in allen Sachen, die er sie fragte, zehnmal klüger und verständiger als alle Zeichendeuter und Weisen in seinem ganzen Reich.« (Vers 15.20) Also anscheinend »das« Rezept für körperliche und mentale Gesundheit.

Einige Rabbiner haben viel darüber nachgedacht. So meinte Rabbi Abraham Isaak Kook in seinem Aufsatz über Vegetarismus und Frieden zum Beispiel, die Erlaubnis zum Fleischverzehr nach der Sintflut habe nicht nur der Notwendigkeit zum Überleben entsprochen, sondern sei auch eine Schutzmaßnahme vor dem Kannibalismus gewesen. Die aufwändigen Schlachtungsgesetze in der Torah sollten zudem den Fleischverzehr weitestgehend eindämmen. Fleisch dürfe man nicht in Milch kochen (2. Mose 23,9), weil man für das eine Töten und für das andere Stehlen müsse und damit gleich zwei Verbrechen auf einmal begehe. Das Blut eines geschlachteten Jagdtieres sei zu bedecken (3. Mose 17,13), damit man sich dafür schäme. Flachs und Wolle dürfe man nicht miteinander verweben (3. Mose 19,19), weil Flachs auf moralisch neutrale Art, aber Wolle von einem Tier genommen werde, das sie vielleicht gebraucht hätte.

Schon in frühen nachbiblischen Zeiten gab es praktizierende jüdische Vegetarier. Für einige Sekten gehörte der Vegetarismus zur Trauer über den zerstörten Tempel. Andere wurden Vegetarier aus Sorge um die Seele der Schlächter. Heute versuchen viele Rabbis alle Juden zum Vegetarismus zu bekehren. Die Organisation Jewish Veg nannte 2017 alleine 75 Rabbis, die den Vegetarismus vertreten. Tel Aviv wird sogar Welthauptstadt des Veganismus genannt. 2016 waren über 5 Prozent aller Israelis Veganer. Siegen lagen damit in Führung. Ethische, ökologische und gesundheitliche Gründe werden von ihnen ins Feld geführt.

Heute muss beim Passahfest kein Passahlamm mehr gegessen werden, weil die Opfer nach der Zerstörung des Tempels durch Gebete ersetzt wurden. Aber schon rein an sich steht ja das Passahfest am Anfang einer neuen Ernährungsform: Gott wollte das Volk Israel fortan mit dem Himmelsbrot Manna statt aus den Fleischtöpfen Ägyptens ernähren. Der Bruch mit dieser Kost führte dann zu den sprichwörtlich gewordenen Lustgräbern (4. Mose 11,34). Das Passahfest jedoch war das Fest der Befreiung aus der Knechtschaft. Eigentlich eine Inspiration für jeden Menschen, die Sklaverei zu überdenken, die in der Tierhaltung praktiziert wird.

Islam

Im Islam hat der Vegetarismus keine so ausgeprägte Tradition wie im Judentum. Doch Mohammed war als mitfühlender Tierfreund bekannt, der vegetarische Speisen liebte. Der Koran bestätigt die biblischen Reinheits- und Schlachtungsgebote (al-Mā’ida 5:1), den biblischen Bericht von einer vegetarischen Ernährung im Paradies (al-Baqara 2:35) und setzt sich für den Schutz des Lebens ein (al-Mā’ida 5:32). Wie die Bibel schwärmt der Koran von Pflanzenkost (an-Nahl 16:11,65-69; Yā Sīn 36:33-35), während er Fleischverzehr zwar toleriert, aber reglementiert (al-Mā’ida 5:1,3,95). Barmherzigkeit, Rücksicht und Maßhaltung sind islamische Werte, die heute aus ethischer, ökologischer und gesundheitlicher Sicht für den Vegetarismus sprechen.

In der Frühzeit des Islam aßen nur die Reichen jeden Freitag Fleisch, die Armen lediglich bei den Festen. Heute gibt es mehrere Fatwas, die ausdrücklich bestätigen, dass der Vegetarismus nicht un-islamisch ist. Denn Fleischverzehr wird nirgendwo im Koran oder den Traditionen vorgeschrieben. In der Geschichte gab es auch viele Sufis, islamische Mystiker, die Vegetarier waren. Es gibt Hadithe, aus denen man schließen kann: Wer ein Tier misshandelt, ist des höllischen Feuers schuldig; wer sich aber über ein Tier erbarmt, über den wird sich auch Gott erbarmen.

Die Tieropfer am so genannten Opferfest sind lediglich traditionell und nirgendwo vorgeschrieben. In Wirklichkeit geht es um das Opfer des eigenen Willens und Lebens im Dienst für Gott. »Ihr Fleisch und Blut erreicht Gott nicht, sondern eure Frömmigkeit. So hat Gott sie in euren Dienst gestellt, damit ihr ihn verherrlicht, weil er euch geführt hat. Bring denen frohe Botschaft, die Gutes tun!« (al-Hadsch 22:37) Wie könnte man Gott aus islamischer Sicht besser verherrlichen als dadurch, dass man Gottes barmherziges Wesen auch im Umgang mit den Tieren wiederspiegelt?

»Jedes Tier auf Erden und jeder geflügelte Vogel gehört zu einer Gemeinschaft wie der eurigen. Wir haben in der Schrift nichts unberücksichtigt gelassen. Sie werden alle zum HERRN versammelt werden.« (al-An‘ām 6:38) Dieser Vers hat eine ethische und eine ökologische Komponente: Tiere fühlen sich genauso zu einer Familie zugehörig wie der Mensch und leiden daher, wenn diese Gemeinschaft gestört wird. Das ökologische Zusammenspiel all dieser Gemeinschaften als von Gott bestimmter Lebensordnung ist dadurch angedeutet, dass Gott schließlich alle zu sich versammeln wird.

Die Anzahl der muslimischen Vegetarier weltweit wächst jedenfalls mit dem steigenden Bewusstsein der ethischen, ökologischen und gesundheitlichen Problematik der Fleischkost.

Möge der Blick durch die Brille dieser Schwesterreligionen uns daran erinnern, wie kostbar die Weisheit der Torah ist: »Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber als viel tausend Stück Gold und Silber. Darum liebe ich deine Gebote mehr als Gold und feines Gold. Weisheit erwerben ist besser als Gold und Einsicht erwerben edler als Silber. Die Rechte des HERRN sind wahrhaftig, allesamt gerecht. Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold, sie sind süßer als Honig und Honigseim.« (Psalm 119,72.127; Sprüche 16,16; Psalm 19,11)


 

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