Zum Jubiläum des konstantinischen Sonntagsgesetzes vom 7. März 321: Juden mit neuen Augen sehen durch ein Buch von Jacques Doukhan

Zum Jubiläum des konstantinischen Sonntagsgesetzes vom 7. März 321: Juden mit neuen Augen sehen durch ein Buch von Jacques Doukhan
Aussicht auf die Altstadt von Jerusalem vom Ölberg mit Olivenbäumen im Vordergrund. Adobe Stock - John Theodor

Der große Graben entstand erst vor 1700 Jahren. Von Kai Mester

Die einen feiern das Jubiläum, weil sie den Sonntag als Ruhetag schätzen. Die andern gedenken des Tages, um vor der Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und vor Diskriminierung Andersdenkender zu warnen. Das Sonntagsgesetz vom 7. März 321 hatte aber noch eine ganz andere, sehr tragische Bedeutung.

Jacques Doukhan ist Jude und als Siebenten-Tags-Adventist auch Christ. Deshalb hat er sich intensiv mit seiner Identität auseinandergesetzt. Sind diese Identitäten vereinbar? Um diese Fragen zu beantworten, beleuchtet er in seinem Buch Israel and the Church das Verhältnis von Judentum und Christentum seit den Anfängen und kommt zu spannenden Ergebnissen. Das Sonntagsgesetz spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle:

Die ersten Christen waren Juden

Ganz klar: Die ersten Christen waren Juden. Denn: Jesus ist Jude. Seine Abstammung, sein Name, seine Titel, seine Messianität, sein Aussehen, seine Sprache, Erziehung, Religion, Ernährung und seine Taufe, seine Gebete, Wunder, Lehrmethoden und die Bedeutung seines Todes als Passahlamm, sein Begräbnis, sogar seine Himmelfahrt: alles war durch und durch jüdisch. An keiner Stelle hat er mit seiner Identität gebrochen.

Auch seine Jünger waren Juden. Allein ihre Form von Jüngerschaft war jüdisch, ihre Anzahl, ihre Aussendung, ihr Hintergrund und ihre Ausbildung ebenfalls. Sie konvertierten an keinem Punkt vom Judentum zum Christentum, sondern sahen den Messias als den an, der ihrer jüdischen Identität erst den vollen Sinn schenkte. Sie bekannten sich zu jüdischen Werten und Lehren und blieben bis zu ihrem Lebensende praktizierende Juden.

Die heiligen Schriften sind jüdisch

Petrus zählte die Briefe des Paulus einfach zum Rest der Bibel dazu (2. Petrus 3,16). Betrachteten die ersten Christen ihre Schriften also als jüdisch? Die alten biblischen Schriften werden dort auf jeden Fall ausführlich zitiert. Der Aufbau des Neuen Testaments orientiert sich an ihnen. Es wurde von Juden für Juden geschrieben, und auch sein Inhalt ist bei näherem Hinsehen zutiefst jüdisch, denn es senkt die Botschaft der hebräischen Bibel noch tiefer in die Herzen hinein. Selbst die »neuen« Gebote waren uralt, kamen nun aber in neuer Frische daher.

Bis hierhin werden inzwischen viele Christen zustimmen. Der Holocaust hat viele umdenken lassen. Vor dem Holocaust sah man das noch ganz anders. Die folgenden Erkenntnisse sind aber nur wenigen bewusst:

Sehr viele Juden waren Christen

Als Jesus predigte, folgten ihm die jüdischen Massen nach. Er war so beliebt, dass die jüdische Führungselite es mit der Angst zu tun bekam. Um ihre Macht nicht zu verlieren, planten sie seinen Tod. Entgegen jüdischem Gesetz verhörten sie ihn nachts – aus Furcht vor dem Volk. Zu Passah waren aber auch viele Juden aus der Diaspora in Jerusalem, die Jesus nicht so gut kannten. Diesen Umstand machten sie sich zunutze, um so leichter ein Todesurteil durch die Römer gegen ihn zu erwirken. Den in Israel lebenden Juden hätten sie nicht so leicht die Worte »Kreuzige ihn!« entlocken können, schon gar nicht den unzähligen Menschen, die er geheilt hatte.

Jesu Beliebtheit nahm nach seiner Kreuzigung nicht ab. Die Apostelgeschichte spricht von einem Wachstum bis zu mindestens 20.000 Juden, die den Messias annahmen (Apostelgeschichte 2,41; 4,4; 9,31; 14,1; 21,2), darunter viele Priester und Pharisäer (6,7; 15,5). Nach den Berichten zu urteilen, haben dann sogar die meisten Juden in den Diasporagemeinden den Messias angenommen, manchmal sogar alle ihre Glieder. Die Hälfte der Äthiopier waren zum Beispiel Juden, und fast alle nahmen Jesus als Messias an. Überall gingen die messianischen Juden am Sabbat in die offiziellen Synagogen, statt eigene Gotteshäuser zu gründen. Denn Paulus predigte das Prinzip: »den Juden zuerst« (Römer 1,16; 2,9.10).

Die meisten Juden blieben auch nach der Zerstörung des Tempels Christen

Qumran wurde 68 n. Chr. von den Römern gestürzt, der Tempel 70 n. Chr. zerstört, Masada fiel 73 n. Chr. Damit waren die Zentren der Essener, Sadduzäer und Zeloten vernichtet. Sie verloren ihre Bedeutung und verschwanden aus der Geschichte. Die einzigen jüdischen Strömungen, die überlebten, waren die Christen und die Pharisäer.

Die Christen trennten sich erst im vierten Jahrhundert von den Juden

Erst die durchs konstantinische Sonntagsgesetz 321 besiegelte Ablehnung des Sabbats und die damit finalisierte Abwertung der Torah durch die Christen führte zu getrennten Gottesdiensten, zum Aufstieg des Christentums zur Staatskirche und zur Verfolgung der nicht-christlichen Juden. Der religiöse Antisemitismus war geboren. Christen distanzierten sich vom Judentum und beschuldigten die nicht-christlichen Juden des Gottesmordes.

Die zunehmend prekäre Lage der Juden ließ sie im Verlauf der Jahrhunderte ihr Vermögen mehr und mehr in Silber und Gold anlegen, da dies sich leichter bewegen und verstecken ließ. Auch begannen sie als Bankiers zu arbeiten, einem der wenigen Berufszweige, der ihnen im Mittelalter noch blieb. Die Ghettoisierung begann. Man sah Juden als gefährliches Ungeziefer an. Der Rest ist Geschichte! Man meinte, der Gottesmord müsse gerächt werden.

Die Ersatztheologie

Dem Antisemitismus lag auch eine Theologie zugrunde: Gott habe Israel verworfen, und das Christentum sei an seine Stelle getreten. Dabei hatte dem noch Paulus vehement widersprochen (Römer 11,1ff).

Der erste Bericht über die Verbrennung einer Synagoge stammt aus dem Jahre 355 n. Chr. aus Norditalien. An ihrer Stelle wurde eine Kirche errichtet. So geschah es bald überall. Die Kreuzritter richteten schlimme Massaker unter den Juden an und rotteten sie an manchen Orten gänzlich aus. Unter dem Zeichen des Kreuzes wurde das Heilige Land und Jerusalem eingenommen. Eine Zeitlang boten die Muslime den Juden noch Zuflucht vor ihren Verfolgern. Doch am Schluss stand der Holocaust.

Das geistliche Israel verdrängte das fleischliche Israel, die Gnade das Gesetz, die Gefühle verdrängten Recht und Ethik, der süße Liebesgott Jesus in der Krippe den eifersüchtigen, Blitze schleudernden JHWH. Glaubenspraxis wich Dogmen, das Alte Testament wich dem Neuen, der Sabbat dem Sonntag, der unsichtbare Gott dem sichtbaren Kruzifix. Es kam nicht mehr auf Sinneswahrnehmung und Erfahrungen in Gottes großartiger Schöpfung an, sondern auf geistliche, rationale Exerzitien.

Ein tiefer Graben

Christen und Juden trennte schließlich ein tiefer Graben. Ihre Theologie, Kultur und Mentalität entwickelte sich in der gegenseitigen Auseinandersetzung immer mehr auseinander. Den größten Anlass dafür boten die Christen; denn Juden wurden aufgefordert, entweder ihre Identität aufzugeben und Christen zu werden oder Diskriminierung, Verfolgung und Tod zu erleiden.

Nach dem Holocaust erkannten Juden und Christen, dass Judenmission im großen Stil einem geistlichen Holocaust gleichkäme. Sie würde die Existenz jüdischer Kultur und Identität gleichermaßen gefährden. So wurden Christen zurückhaltend und Juden wurden gegen die wenigen verbleibenden Missionsversuche resistent.

Neue Brücken

Doch nach Auschwitz können selbst christliche Juden ihre jüdische Identität nicht mehr vergessen und bekennen sich auch dazu. Sie helfen Christen, ihre jüdischen Wurzeln zu entdecken. Eine messianisch-jüdische Bewegung ist entstanden, die von allen jüdischen Strömungen angeblich die ist, die am schnellsten wächst. Von vielen Juden wird sie zwar als verkapptes Christentum misstrauisch beäugt, als Täuschungsmanöver mit jüdischen Etiketten, hinter dem christlichen Missionswerke stehen. Dennoch gibt immer mehr messianische Juden, die tatsächlich den Sabbat und die Feste feiern, koscher essen, Kreuzeszeichen und Jesusbilder ablehnen, statt christlicher Choräle, hebräische Bibellieder zu jüdischen Melodien und Harmonien singen, jüdische Gebete und Segenssprüche rezitieren und nach Israel einwandern.

Vom Hass zur Wertschätzung

Besonders unter die Haut ging mir dieser Abschnitt in Jacques Doukhans Buch:

»Der Neutestamentler Brad Young erzählte folgende Begebenheit: An einer international anerkannten Universität sagte ein weltberühmter Neutestamentler seinen Studenten: ›Um ein guter Christ zu sein, muss man zuerst einmal den Juden töten, der in einem selbst wohnt.‹ Auf diese Aussage hin meldete sich eine Studentin und fragte: ›Meinen Sie Jesus?‹« (Seite 92)

Ohne die Juden würde den Christen das Zeugnis über ihre Wurzeln fehlen. Die Juden haben die hebräische Bibel, die hebräische Sprache und den Sabbat lebendig erhalten. Ihre Feste zeigen etwas von ihrer Lebensfreude und ihrem Sinn für Schönheit. Mit ihrem ganzheitlichen Glauben hinterfragen sie den verkopften Ansatz unseres griechischen Denkens, der uns oft zu Theoretikern macht.

Dass die meisten Juden heute den Messias ablehnen, ist zum großen Teil unserer christlichen Vergangenheit geschuldet, aber durchaus auch unserem Zeugnis heute, das unglaubwürdig bleibt, weil wir uns so weit von der jüdischen Identität Jesu fortbewegt haben, dem wir doch angeblich nachfolgen. Kontakte zu Juden haben das Potenzial, uns diese Schwäche bewusst zu machen.

Ich hoffe, diese Zusammenfassung von Jacques Doukhans Buch Israel and the Church hat beim Leser das Interesse an diesem Thema geweckt. Das Buch hat 99 Seiten, ist 2002 bei Hendrickson Publishers erschienen und wurde 2018 von Wipf and Stock Publishers in Eugene, Oregon neu aufgelegt. Für alle, die Englisch können, lohnt sich die  Lektüre wirklich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Ich stimme der Speicherung und Verarbeitung meiner Daten nach EU-DSGVO zu und akzeptiere die Datenschutzbedingungen.