Was unsere Reue heute bewirken kann. Von Kai Mester
Immer wieder begegnet mir unter jungen Deutschen Unverständnis über den Schuldkomplex, mit dem viele ihrer Landsmänner auf die Vergangenheit schauen. Man möchte sich am liebsten von ihr frei machen und – vor allem auch angesichts Israels Siedlungspolitik und Umgang mit den Palästinensern – guten Gewissens ein israelfeindlicheres Verhalten an den Tag legen dürfen.
Man argumentiert, dass manches im Rückblick in Bezug auf die Nazis und den Holocaust übertrieben wird. Das Holocaustgedenken werde als psychisches Druckmittel genutzt, um aktuelle Verbrechen Israels zu legitimieren.
Jüngere Zahlen zu Nazi-Lagern und -Gettos in Europa
Geoffrey Megargee und Martin C. Dean arbeiteten an einer mehrbändigen Enzyklopädie der Lager und Gettos in Nazi-Deutschland und anderen Nazi-Gebieten zwischen 1933 und 1945. Ihre Studien haben ergeben, dass die Zahl der Lager und der dortigen Insassen möglicherweise weit höher liegt, als bisher angenommen. So haben sie eine Liste von 42.500 Lagern und Gettos in Europa aufgestellt und schätzen die Anzahl der Insassen und Einwohner auf 15 bis 20 Millionen.
Martin Dean zweifelt daran, dass viele Deutsche über diese Dinge in Unwissenheit waren, wie oft nach dem Krieg behauptet. »Man konnte buchstäblich nirgends in Deutschland hingehen, ohne dass man auf ein Zwangsarbeits-, Kriegsgefangenen- oder ein Konzentrationslager stieß. Sie waren allgegenwärtig.« (zit. in New York Times, 1. März 2013)
Dazu kamen die mobilen Gaskammern. Allein drei solcher LKWs hatten innerhalb eines Monats schon 97.000 Menschen, vor allem Juden und »Zigeuner«, umgebracht (Kogon, Langbein, Rueckerl, Nazi Mass Murder: A Documentary History of the Use of Poison Gas; (1993) New Haven, CT: Yale University Press).
Ist kollektive Reue biblisch?
Die Verbrechen dieser Zeit sind so niederschmetternd und schockierend, dass eigentlich jeder bibelgläubige Deutsche ein Sündenbekenntnis im Sinne Daniels ablegen müsste: »Wir haben gesündigt und haben unrecht getan und gesetzlos gehandelt; wir haben uns aufgelehnt und sind von deinen Geboten und deinen Rechtsordnungen abgewichen! Wir haben auch nicht auf deine Knechte, die Propheten, gehört, die in deinem Namen zu unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vätern und zu dem ganzen Volk des Landes geredet haben. Uns, HERR, treibt es die Schamröte ins Gesicht, unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vätern, weil wir gegen dich gesündigt haben!« (Daniel 9,5-6.8)
So betete Daniel, obwohl er sich wahrscheinlich selbst keiner dieser Sünden schuldig gemacht hatte. »Noah, Daniel und Hiob« (Hesekiel 14,14.20) gehörten ja zu den Gestalten vor der Ankunft des Messias, deren Gerechtigkeit unübertroffen war. Daniel war noch sehr jung, als er in die babylonische Gefangenschaft geführt wurde, und doch fühlte er sich verantwortlich für die Sünden seiner Väter, Könige und Fürsten.
Kollektive Reue wirkt Wunder
So dürfen auch wir uns für die Sünden unserer Vorväter und Staatsmänner verantwortlich fühlen und wie Daniel zu Gott um Vergebung beten. Denn dies ist die wirksamste Methode, uns von dem Geist zu befreien, in dem sie ihre Sünden begingen. Stattdessen werden wir dann von einem Geist der Barmherzigkeit ergriffen, der sich danach sehnt, besonders den Menschen zum Segen zu werden, die unter uns Deutschen im Holocaust besonders gelitten haben: den Juden, den Slawen, den Sinti und Roma, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Behinderten und psychisch Kranken, Homosexuellen, den Zeugen Jehovas, den Reformadventisten usw.
Deutscher, Europäer oder Kosmopolit?
Schon früh in der Schule konfrontiert mit dem Holocaustgeschehen habe ich mich selbst die meiste Zeit meines Lebens nie richtig als Deutscher gefühlt, sondern eher als Europäer oder Weltbürger. Doch seit wir unseren Aufenthalt in Bolivien planten, wurde mir bewusst, dass die Eroberung Südamerikas durch die spanischen Konquistadoren ähnlich scheußliche Züge trägt wie der Holocaust. So ist es auch schwierig, sich darüber zu freuen, dass man Europäer ist.
Das schlimmste Verbrechen aller Zeiten?
Schlussendlich wird uns bewusst, dass jeder von uns an dem schlimmsten Verbrechen auf Erden beteiligt war, das übrigens auch an einem Juden vollzogen wurde: der Kreuzigung des eingeborenen Gottessohnes. Warum waren wir an diesem Verbrechen beteiligt? Weil »das Kreuz unseren stumpfen Sinnen den Schmerz offenbart, den die Sünde seit ihrem ersten Aufkommen dem Herzen Gottes zufügt.« (Education, 263; vgl. Erziehung, 263) Mit jeder Sünde haben wir Jesus gekreuzigt.
Wo ist unser Mitgefühl und unsere Reue? Wo ist die Barmherzigkeit, mit der ich mich über die Juden und andere Opfer und Minderheiten erbarme? Wo ist meine Liebe für den Messias, den ich gekreuzigt habe? Wo ist meine Sehnsucht, Gott kein Leid mehr zuzufügen, sondern »mit der Sünde abgeschlossen« zu haben, weil ich mich freiwillig dafür entscheide »im Fleisch zu leiden« (1. Petrus 4,1)?
»Wähle lieber Armut, Trennung von Freunden, Verluste, Vorwürfe oder irgendein anderes Leiden, als dein Herz mit Sünde zu verunreinigen!« (Testimonies on Sexual Behavior, 105) »Bewahre den Geist, der lieber leidet als zu sündigen!« (Christ Triumphant, 94)
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