Jüdische Flexibilität: Der Chassid und der Tor

Jüdische Flexibilität: Der Chassid und der Tor
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Wann man seine Pläne umwerfen sollte. Von Richard Elofer

Eines Tages wurde der große Chassid Rabbi Hillel von Paritch (1795–1864) von dem großen Verlangen gepackt einen Schabbat mit seinem Rebben, dem Rabbi Menachem Mendel Schneerson von Lubawitsch zu verbringen. Sich diesen Wunsch zu erfüllen, war jedoch nicht so einfach:

Die Woche ging schon dem Ende zu, und viele Kilometer trennten Babrujsk (wo Rabbi Hillel damals lebte) von Ljubawitschi. Es schien keine Möglichkeit mehr zu geben, rechtzeitig vor dem Schabbat beim Rebben einzutreffen. Doch dann bot ein junger Chassid ihm an, er könne ihn dort hinbringen. Seine schnittige neue Kutsche und die erstklassigen Pferde könnten es schaffen, behauptete er. Doch die Zeit dränge. Daher müsse Rabbi Hillel zwei Dinge versprechen:

Sie würden die gepflasterte Landstraße nehmen (Rabbi Hillel weigerte sich normalerweise, sie zu benutzen, weil sie vom bösen Zar Nikolaus I. gebaut worden war). Außerdem dürfe Rabbi Hillel nicht zu viel Zeit fürs Gebet verwenden. Unter diesen Umständen willigte der ältere Chassid ein.

In der Nacht schliefen sie in einem Gasthaus an der Strecke. Am Morgen betete und frühstückte der junge Gefährte. Dann schaute er nach Rabbi Hillel. Dieser betete noch immer. Nach einiger Zeit ging er noch mal hin – dasselbe! So vergingen die Stunden, und immer noch schüttete der alte Chassid seinem Schöpfer sein Herz aus.

Als Rabbi Hillel schließlich seine Gebete beendete, war sein Gefährte ganz schön aufgebracht. »Ich verstehe das nicht«, beklagte er sich. Du wolltest den Schabbat doch mit dem Rebben verbringen und hast versprochen, dich bei den Gebeten zu beeilen. Jetzt hast du die Chance verspielt, Ljubawitschi noch rechtzeitig zu erreichen!«

Da antwortete Rabbi Hillel: »Angenommen, du hättest nach Leipzig auf die Messe fahren wollen, um eine seltene Ware zu kaufen, die sonst nirgends zu finden ist. Doch unterwegs hättest du einen anderen Kaufmann getroffen, der dir dieselbe Ware zu einem guten Preis anbietet. Nur ein Tor würde dann sagen: ›Ich muss unbedingt nach Leipzig fahren!‹ Der Zweck der Reise ist nicht irgendeine Stadt, sondern die gesuchte Ware.

Warum fährt man zum Rebben? Doch nur, um seinen Rat zu suchen, wie man in seinem Herzen im Gebet feurige Liebe und staunende Ehrfurcht gegenüber Gott anfachen kann. Wenn es dann mit meinen Gebeten auf dem Weg nach Ljubawitschi gut läuft, warum sollte ich dann die gefundene Ware wegwerfen und nach Leipzig fahren?

Aus: Shabbat Shalom Newsletter, 734, 10. Juni 2017, 16. Sivan 5777
Herausgeber: World Jewish Adventist Friendship Center


 

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