Seine unendliche Geduld, sein umfassendes Angebot, sein liebevolles Werben. Von Ellen White
Jesus sagte in seinem Gebet über seine Jünger: »Die du mir gegeben hast, habe ich behütet, und keiner von ihnen ist verlorengegangen als nur der Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt würde.« (Johannes 17,12) Auch Jesu Verräter hätte das ewige Leben haben können, wenn er Jesu Worte nicht nur gehört, sondern auch getan hätte. Judas hatte genau dieselben Gelegenheiten, dieselben Vorrechte wie die anderen Jünger. Er lauschte demselben wertvollen Unterricht; aber die Grundsätze, die der Herr erklärte, setzte er einfach nicht in die Praxis um. Seine Meinungen und Ideen ließ er nicht los, um die Lehren des Himmels annehmen zu können. Die Umsetzung der Wahrheit, um die Jesus ihn bat, kollidierte mit seinen Zielen und Wünschen.
Jesu unverbindliches Angebot
Die Jünger waren nicht wegen ihrer Unvollkommenheit ausgewählt worden, sondern trotz ihrer Unvollkommenheit, damit sie durch Jesu göttliche Gnade in sein Ebenbild verwandelt würden, sobald sie die Wahrheit erkannten und umsetzten. Jesus nahm sie in seine Schule. Sie durften der Unterweisung des größten Pädagogen lauschen, den die Welt je kannte. Judas kam unter den Einfluss des göttlichen Lehrers, und der Retter begegnete dem Mann, der ihn ja einst verraten würde, mit besonderer Freundlichkeit. Die dunklen Aspekte seines Charakters waren Jesus bekannt. Judas wusste, dass er seinen Herrn verraten würde, wenn er diese bösen Charakterzüge nicht überwand. Jesus unterbreitete ihm die Grundsätze der Liebe und Wohltätigkeit, die jegliche Habsucht an der Wurzel packte. Er malte dem habsüchtigen Judas das abscheuliche Wesen der Begierde vor Augen. Dass hier sein Charakter dargestellt, seine Sünde aufgezeigt wurde, merkte Judas sehr wohl. Doch er hielt am Bösen fest; er bekannte und ließ sein Unrecht nicht. Er war sich selbst genug. Statt der Versuchung die Stirn zu bieten, folgte er seinen betrügerischen Praktiken, obwohl Jesu Lehren und sein Leben ein helles Licht auf sie warfen. Jesus stand ihm vor Augen als lebendiges Beispiel. Erst wenn er in dieses Bild verwandelt sein würde, hätte er aus dem göttlichen Mittlertum und Dienst den vollen Nutzen gezogen. Eine Erklärung nach der anderen stieß bei Judas auf taube Ohren. Wie vielen geht es ähnlich! Im Licht von Gottes Gesetz erkennen selbstsüchtige Menschen ihre Bosheit, aber sie ergreifen keine Reformmaßnahmen und fallen von einer Sünde in die nächste.
Alles freiwillig, aber es gibt nur einen Weg
Jesu Lehren treffen auf unsere eigene Zeit und Generation zu. Er sagte: »Ich bitte aber nicht für diese allein, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben werden.« (Johannes 17,20) Dieselbe Botschaft, die an Judas gerichtet war, gilt auch uns heute in diesen letzten Tagen. Dieselben Lehren, die er nicht umsetzte, erreichen die Ohren von Menschen, die ebenfalls versagen, weil sie ihre Sünde nicht loslassen wollen. Alle aber, die einst einen Platz neben Jesus auf seinem Thron haben, werden überwunden, jede Selbstsucht im Herzen entwurzelt haben. Der Apostel sagt: »Denn ihr sollt so gesinnt sein, wie es Christus Jesus auch war, der, als er in der Gestalt Gottes war, es nicht wie einen Raub festhielt, Gott gleich zu sein; sondern er entäußerte sich selbst, nahm die Gestalt eines Knechtes an und wurde wie die Menschen; und in seiner äußeren Erscheinung als ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz.« (Philipper 2,5-8)
Jesu unendlicher Liebesbeweis
Der Erlöser der Welt hat sich selbst für uns geopfert. Er hat uns auch ein unfehlbares Vorbild gegeben. Dass andere fehlerhaft sind, ist keine Entschuldigung für unsere Charakterfehler. Denn unsere Augen sollen allein auf Jesus gerichtet sein. Die Wahrheit will aber nicht nur angenommen, sondern auch von Herzen ausgelebt werden. Können wir mit dem Kreuz von Golgatha vor Augen Stolz, Selbstsucht und Rebellion hegen wie Judas? Jesus ging Schritt für Schritt den Weg der Demut und Selbstverleugnung hinab, damit wir Söhne und Töchter Gottes werden. Womit erwidern wir diese unendliche Liebe? Wie kalt, wie gleichgültig sind wir doch! Wie wenig geben wir Jesus zurück, wo er doch alles für uns gegeben hat! Er starb den schändlichsten Tod für uns. Doch wie schwach ist unser Dienst, wie unwillig sind unsere Herzen, ihm alles zu übergeben!
Jesus reinigt uns
Wer von uns ahmt das Vorbild nach? Bezwingen wir durch Jesu Gnade unseren Herzensstolz? Haben wir unsere Selbstsucht entwurzelt? Haben wir unsere Herzenstür weit aufgerissen, damit Jesu kostbare Liebe einströmen kann? Oder halten wir an Sünden fest, die uns schließlich zerstören? Wir können Jesus nicht im Frieden gegenübertreten, wenn wir auch nur eine unbereute, nicht gestandene, nicht aufgegebene Sünde haben. Doch Johannes schreibt: »Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.« (1. Johannes 1,9.10) »Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde.« (1. Johannes 1,7)
Die einzige Grenze für Gottes Barmherzigkeit: mein freier Wille
Jesus hatte lange Geduld mit dem irrenden Judas, und er hat lange Geduld mit unseren Verirrungen. Obwohl sie das abschreckende Beispiel von Judas vor Augen haben, wagen doch viel zu viele, es ihm nachzutun! Aber in unserem Fall wird – wie bei Judas auch – eine Zeit kommen, wo Gottes Barmherzigkeit und Nachsicht an ihre Grenzen stößt. Entweder beherzigen wir die Worte unseres Herrn und folgen seinen Aufforderungen in unserem Leben, oder wir hören sie nur, aber tun sie nicht, sodass wir der Vernichtung anheimfallen. Entweder wir überwinden unsere bösen Charakterzüge und werden wie Jesus, oder wir halten an unseren Schwächen fest und bleiben unter der göttlichen Norm. Dann kollidiert unser Wille mit Jesu Willen, und wir geraten in Dissonanz mit ihm, der uns so unmissverständlich wie nur möglich seine Liebe bewiesen hat.
Der Weg ist uns ganz leicht gemacht
Ach, lehnen wir ihn doch nicht wegen unserer eigenen Unzulänglichkeiten ab! Aus seinem Herzen rollen Segenswellen auf jedes Herz zu, das sich für seine Liebe öffnet. Wir brauchen ihn nur zu lieben, ihm zu vertrauen, ihm zu folgen. Dann verbürgt er sich mit seinem unveränderlichen Wort dafür, dass wir die Reichtümer seiner Herrlichkeit erhalten. Wir brauchen einfach nur, neugierig wie ein Kind zu ihm zu kommen. Dann wird er uns mit sich verbünden, sodass wir Söhne und Töchter Gottes werden. Wir sind eingeladen, das zu lernen, was Judas von den Lippen des göttlichen Lehrers hätte lernen können. Dann werden wir einen jesusgleichen Charakter bekommen.
Sich von der Gnade, Kraft und Geduld helfen lassen
Wir wollen nicht in die Lage derer geraten, für die Jesus vergeblich gestorben ist. In Jesus gibt es genügend Gnade, um alle unsere bösen Charakterzüge zu überwinden, und auch die Kraft dazu ist allein in ihm zu finden. Er hat lange Geduld mit uns. Wenn er so wäre wie viele andere, hätte er Judas scharf für seine Habsucht kritisiert. Doch mit welch göttlicher Geduld begegnete er diesem irrenden Menschen, während er ihm zu verstehen gab, dass er in seinem Herzen wie in einem offenen Buch las. Er gab ihm die höchsten Anreize für Rechtschaffenheit, sodass Judas, als er das himmlische Licht ablehnte, selbst schuld war, weil er sich wirklich nicht helfen ließ.
Noch ist es Zeit!
Alle, die sich als Nachfolger Jesu ausgeben, laufen Gefahr, einen ähnlichen Kurs wie Judas einzuschlagen. Wenn sie Jesus nicht stündlich zu ihrer Stärke machen und durch seine Gnade überwinden, entwickeln sie sich von Jesus immer weiter weg, und ihre schlechten Gewohnheiten verfestigen sich. Wer geistlich stolz, selbstsüchtig und stur ist, kann aber auch jetzt noch eifrig Buße tun. Dann werden seine Sünden getilgt werden, wenn die Zeit der Erquickung aus der Gegenwart des HERRN kommt.
Für Hinweise offen?
Das kostbare Licht scheint auf uns, schien auf die Jünger; denn es erreicht uns durch sie und ist heute noch genauso wertvoll wie in den frühen Tagen der Christenheit. Jesus zwang Judas nicht dazu, das Licht anzunehmen; genauso wenig wird er uns heute dazu zwingen. Der HERR sendet seine Diener, die den Wahrheitsschatz allen erklären, die für Hinweise offen sind; wenn Menschen aber an ihren eigenen Ideen festhalten, sich der Wahrheit widersetzen und sich von ihr nicht heiligen lassen wollen, werden ihre Herzen hart und lassen sich durch nichts mehr beeindrucken.
Aus: Review and Herald, 17. März 1891
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