Ein protestantisches Erbe mit solidem Fundament soll in Vergessenheit geraten. Von Dr. theol. Alberto Treiyer, adventistischer Experte in Heiligtumslehre aus Argentinien
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Unsere Pioniere übernahmen die protestantische Auslegung der Posaunen: Sie sahen in den Posaunen Gottes Gerichte gegen die Unterdrückermacht Rom. Das Studium der Geschichte zeigte ihnen, dass die ersten vier Gerichte das heidnische Kaiserreich trafen: Die Germanen fielen ein und führten im 5. Jahrhundert den Untergang Roms herbei. Dann, ab dem 7. Jahrhundert, fielen die Muslime ein und brachten im 15. Jahrhundert Ostrom in Konstantinopel zu Fall, auch quälten sie das neue Heilige Römische Reich, das im Westen durch die Vereinigung des Kaisers mit dem Papst aufstieg. So schildert es jedes seriöse Geschichtsbuch.
Diese historizistische Auslegung wurde vom Geist der Weissagung auf bemerkenswerte Weise bestätigt. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Auslegung vorgestellt wurde, reagierte die Leitung der Adventgemeinde auf ihren Weltkongressen und warnte: Eine solche Auslegung könne »einige der wichtigsten und grundlegenden Punkte unseres Glaubens erschüttern.« Auch Ellen White warnte, dass weitere neue Auslegungsversuche die uns anvertraute prophetische Erkenntnis zunichtemachen könne. Ab 1914 hörte man dann von solchen Auslegungen, und noch mehr ab 1919. Sie wurden allerdings nie offiziell von der Adventgemeinde akzeptiert.
Die jüngste Neuauslegung, die auch im neuen Andrews Bible Commentary vorgestellt wird, vergeistigt die Symbole in den Posaunen im Buch Offenbarung. Demnach geht es dort nicht primär um militärische Armeen, die gegen Rom zogen.
Die erste Posaune
Schauen wir uns die erste Posaune an. Ihre Erfüllung wird nun nicht mehr in der Verbrennung eines Großteils der Stadt Rom durch die Invasion von Alarich gesehen. Alarich war ja der erste westgotische Feldherr, der in die Reichshauptstadt eindringen konnte. Nun geht man weiter zurück und datiert die erste Posaune in die Zeit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Damit gilt das Gericht nicht mehr dem Reich, das die Christen verfolgte. Nein das heidnische Römische Reich selbst wird als Werkzeug des göttlichen Gerichts gegen die Juden dargestellt. Als Johannes das Buch der Offenbarung schrieb, war Jerusalem aber schon seit über zwanzig Jahren zerstört, und er selbst war auf die von den Römern gehaltene Insel Patmos verbannt worden. Die Sorge der frühen Kirche war nun die Verfolgung durch die Römer. Deshalb bezeichnet sich der Apostel in der Einleitung zur Offenbarung selbst als »Mitgenosse« mit ihnen in dieser Bedrängnis (Offenbarung 1,9).
Das Buch der Offenbarung ließ Jesus nicht an die Juden schreiben, sondern an die sieben frühchristlichen Gemeinden, die er zur Zeit des Johannes betreute, und zwar als Hoher Priester nach der Zerstörung Jerusalems [und des irdischen Tempels und dem Ende des irdischen Priesterdienstes]. In diesem Zusammenhang ist die folgende Aussage der Gründermutter der Siebenten-Tags-Adventisten Ellen White bemerkenswert: »Das Hauptorgan, durch das der Feind in den ersten Jahrhunderten Krieg gegen Jesus und sein Volk führte, war das Römische Reich, in dem das Heidentum die vorherrschende Religion war« (Great Controversy, 438).
Deshalb passt die Beschreibung der ersten Posaune nicht auf die Zerstörung Jerusalems. Der Text sagt, dass dieses erste göttliche Gericht nur ein Drittel zerstören würde. Jerusalem aber wurde vollständig zerstört, verlassen und verwüstet. Keine Juden blieben zurück. Das ist der Grund, warum Jesus die Zerstörung Jerusalems nicht als Bild für eine nur teilweise Zerstörung der Welt heranzog, sondern für eine vollständige (Matthäus 24).
Bei der ersten Germaneninvasion in Rom allerdings wurde tatsächlich nur ein Teil verbrannt, wie es die erste Posaune ausdrückt. Da Alarich die Christen nicht verfolgte, litten vor allem die Heiden. Sie suchten sogar Schutz in den christlichen Kirchen. Als die Römer versuchten, den westgotischen Feldherrn von einem Angriff auf die Stadt abzuhalten, und ihm als Grund die beeindruckende Zahl der dort lebenden Menschen nannten, benutzte Alarich Worte, mit denen Johannes die erste Posaune beschreibt: »Je dicker das Gras, desto besser lässt es sich mähen.«
Innerhalb Roms gab es riesige Wälder, und man kann sich nur vorstellen, wie viel von der Stadt in diesem ersten Gottesgericht gebrannt haben muss. Selbst Christen verstanden, dass die teilweise Zerstörung Roms ein Gottesurteil war, und nicht wenige identifizierten dieses Gericht »der Barbaren« mit der ersten Posaune des Buches der Offenbarung.
»Hagel vom Himmel beschreibt die Trübsal, die aufgrund von Gottes gerechtem Urteil kommt. Feuer mit Blut vermischt ist ein Hinweis auf die Zerstörung durch Feuer und die täglichen Morde von der Hand der Barbaren«, schrieb Andreas von Caesarea (563–637 n. Chr.).
Die zweite Posaune
Die zweite Posaune schildert Seekriege und den Niedergang des Seehandels mit ähnlichen Worten, wie wir sie in den Beschreibungen von Kriegen finden, die im Alten Testament als Gottesgerichte geschildert werden (Jesaja 2,16; 23,1.14; Hosea 4,3; Zephanja 1,3). Genauso traf es auch ein. Der zweite namhafte barbarische Feldherr, der in Rom einfiel und in die Stadt selbst eindrang, war Genserich, der große Seeräuber der Vandalen. Er zerstörte zwei riesige römische Flotten, die zu seiner Vernichtung in See gestochen waren. So war das Kaiserreich diesem Mann ausgeliefert, der die römische Zivilisation in Angst und Schrecken versetzte. Alle großen Küstenstädte wurden belagert, wenn nicht sogar vollständig zerstört.
Diese Abfolge von Ereignissen wurde im Laufe der Jahrhunderte von vielen verstanden. Unsere Pioniere nahmen die Fackel auf, die ihre protestantischen Vorgänger ihnen überreichten. Auch seit Gründung unserer Kirche wurde diese Position gelehrt. Doch inzwischen bleiben die Generäle unerwähnt, die Rom die entscheidenden Schläge vor seinem Untergang versetzten.
Die neue Auslegung sieht in der zweiten Posaune den Fall Babylons, dargestellt durch den »Berg des Verderbens« (Jeremia 51,25). Da Babylon aber zu diesem Zeitpunkt schon längst zerstört ist, versteht man darunter den Repräsentanten des alten Babylons. Doch in der zweiten Posaune fällt der brennende Berg nicht ins Meer, um selbst zerstört zu werden, sondern um durch Kriegsschiffe Zerstörung anzurichten. Das trifft auch auf den »Berg des Verderbens« zu, der in Jeremia zitiert wird.
Der weltliche Historiker Edward Gibbon spricht über den zweiten General, der mit seinem Heer in die Stadt Rom eindrang, mit folgenden Worten: »Genserich, ein Name, dem bei der Zerstörung des Römischen Reiches der gleiche Rang zukommt wie den Namen Alarich und Attila.« (Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, III, 370).
Die dritte Posaune
Der »neuen Auslegung« zufolge wird das Christentum in der dritten Posaune durch Abtrünnigkeit und geistliche Verfinsterung gerichtet, die beide aus dem Fall Roms resultieren. Nicht mehr das Römische Reich wird nun durch Gottes Gerichte heimgesucht, sondern die Christen. Deshalb kommt »der Mensch der Sünde« auf, »der Mensch der Gesetzlosigkeit«, den der Apostel Paulus vorausgesagt hat.
Das lässt aufhorchen. Soll der große Glaubensabfall des römischen Antichristen mit seinen »scholastischen Traditionen und Lehren« denn tatsächlich Gottes Gericht für treue Christen sein? Ist die Posaune der Grund dafür, dass sie unter seinen falschen Lehren zu leiden haben?
Wo sind die Armeen, die Rom nach der Auslegung richten, die im Protestantismus und in unserer Kirche weit und breit gelehrt wurde? Sie sind in dieser Auslegung fast völlig von der Bildfläche verschwunden. Die neuen Ausleger vergeistigen die Erfüllung der dritten Posaune. Sie weisen nicht mehr auf die Texte hin, die zeigen würden, dass diese Symbole in der Vergangenheit als buchstäbliche Kriege verstanden wurden gegen die Feinde von Gottes Volk (Richter 5,20-21; Klagelieder 3,15.19; Jesaja 8,6-8; 9,15-16).
Wenn unsere Pioniere aus ihren Gräbern kämen, würden sie entsetzt darüber sein, wie der Blick von Gottes Volk in eine ganz andere Richtung gelenkt wird.
Unsere geistigen Vorfahren hatten Recht, als sie Attila in dem Stern erkannten, der vom Himmel fiel. Dieser Feldherr kam mit den Hunnen aus dem Osten, wie es ja auch die Sterne tun. Historiker und Karten, die man im Internet über Attilas Vormarsch auf Rom findet, zeigen, dass er sich an den Flüssen niederließ, die auf seinem Weg lagen. Bei keinem anderen Feldherrn wird so oft auf Flüsse verwiesen, um den Verlauf der Invasion zu beschreiben.
Der belgische Historiker Jacques Pirenne schrieb wörtlich über Attila, dass »sein Tod im Jahr 453 das Reich von seiner größten Gefahr in der Geschichte befreite« (J. Pirenne, I, 419-420). Die Bitterkeit (»Wermut«), die dieser Hunnengeneral im Römischen Reich hervorrief, wird in den Schriften der Geschichtsschreiber deutlich beschrieben.
Die vierte Posaune
Die vierte Posaune stellt den Niedergang der Kaiser als sich verdunkelnde Himmelskörper dar. Der Feldherr, der die römische kaiserliche Sonne und die Sterne des Senats verdunkelte, war Odoaker. Er war es, der den letzten römischen Kaiser im Jahr 476 zur Abdankung zwang. Von da an gab es nie wieder Kaiser in der alten Reichshauptstadt. In ähnlicher Weise prophezeite der Prophet Hesekiel die Auslöschung des ägyptischen Reiches durch das Heer des Königs von Babylon. Er beschrieb das göttliche Gericht gegen das alte Reich der Pharaonen mit ähnlichen Worten (Hesekiel 32,7.8.11).
Das vierte göttliche Gericht, das Odoaker ausführt, verwundet jedoch die Sterne nur und verdunkelt ihren Glanz, ohne ihn ganz auszulöschen. Ja! Das alte heidnische Römische Reich verschwand im Westen. Aber seine Gesetze und seine heidnische Religion lebten in geringerem Maße in verschiedenen Formen in vielen alten vom Heidentum beeinflussten christlichen Gesetzen und Kulten fort. Zum Beispiel wurde die heidnische Götzenverehrung der Sterne durch die Heiligenstatuen ersetzt, die mit der Sonne oder dem Mond hinter dem Kopf verehrt wurden (Heiligenschein). Aber auch die Tonsur der Priester kam aus dem Sonnenkult. Das Ergebnis war ein hybrides und abtrünniges Christentum und ein kaiserliches System, das den Glanz der alten Kaiser nicht mehr erreichte.
Die neue Auslegung sieht in der vierten Posaune jedoch den Abfall des Protestantismus und die Einführung des Säkularismus gegen Ende des zweiten Jahrtausends. Der Säkularismus als Gottesgericht über die Protestanten? Das letzte Weltreich im Buch Daniel, das römische, ist also nicht länger Ziel der göttlichen Gerichte, sondern der Protestantismus?
Literarische Struktur und Auslegungsmethode
Die literarische Struktur der Posaunen trennt die ersten vier Posaunen gegen das alte Rom deutlich von den letzten drei ab. Diese drei viel krasseren und umfangreicheren Gerichte treffen die abtrünnige Christenheit, die zur Verfolgermacht geworden ist.
Biblische Prophezeiungen werden durch vier verschiedene Auslegungsschulen ausgelegt. Das heißt aber nicht, dass alle biblisch legitim sind. Nur eine von ihnen hat biblische Unterstützung, nämlich der Historizismus. Unter Historizismus versteht man die Erfüllung von Prophezeiungen im Verlauf der Geschichte. Da diese Art, biblische Prophezeiungen zu verstehen, während des mittelalterlichen Glaubensabfalls verloren ging, haben die Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts sie rehabilitiert, als sie Traditionen abschüttelten und versuchten allein zur Bibel zurückzukehren. Die adventistische Kirche des neunzehnten Jahrhunderts übernahm dieses historizistische protestantische Erbe als Grundlage ihres prophetischen Glaubens.
Von den vier heute noch aktiven Methoden haben der Präterismus und der Historizismus ein gemeinsames Interesse an der Geschichte. Während der Präterismus den gesamten Inhalt der Prophezeiungen auf den historischen Moment, in dem der Prophet lebte, einschränken will, verfolgt der Historizismus die prophetischen Fußstapfen, die der Prophet in der Geschichte vorausgesehen hat, bis in die Zukunft. Einfach ausgedrückt: Historizisten glauben den Worten Jesu, als er sich von seinen Jüngern verabschiedete: »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« (Matthäus 28,20) Sie versuchen also zu erkennen, wie Jesus, gemäß der Prophezeiungen, bei seinem Volk war, ist und sein wird bis zu seiner Wiederkunft.
Die beiden anderen Auslegungsschulen Idealismus und Futurismus haben gemeinsam, dass sie der Kirchengeschichte praktisch keine Aufmerksamkeit schenken. Stattdessen ziehen sie es vor, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Das ist nichts als eine weitere verschleierte Form des Skeptizismus, denn man gibt nur vor, den Prophezeiungen zu glauben, weil man sich ja vom Präterismus distanziert habe. Futuristische Fantasien projizieren alle Prophezeiungen in die Zukunft. Es gibt kein Rückgrat, das die Vergangenheit mit dem Ende der Welt verbindet. Der Idealismus hingegen projiziert nicht alles in die Zukunft. Aber er interessiert sich nur für Ideologien und allgemeine Lehren, die aus den apokalyptischen Symbolen gezogen werden können.
Die neue Auslegung versucht zum Teil ein gewisses historisches Format beizubehalten. Aber man vermeidet es doch so weit wie möglich, die angekündigten Ereignisse mit Namen und Daten zu verknüpfen. Man möchte keine Konfrontation mit der Außenwelt, und daher fühlt man sich wohler, wenn man die Posaunen der Offenbarung als Philosophien auslegt.
Die fünfte Posaune
Die Heuschrecken in der Bibel offenbaren irdische Armeen, keine dämonischen Philosophien. Dies zeigt sich deutlich in Richter 6,5 und 7,12, wo es um die Armeen der Nachkommen Ismaels geht, die im Osten Israels lebten. Haben die östlichen Heere im Buch der Richter nicht auch Angst und Schrecken im Volk verursacht? Waren sie deshalb keine echten Armeen mehr?
Die fünfte Posaune beginnt mit der Beschreibung eines Sterns, der vom Himmel gefallen ist. Auf diese Weise wird wie in der dritten Posaune der orientalische Ursprung gezeigt, denn die Sterne gehen im Osten auf. Von dort kam schon Attila, der König der Hunnen, der in der dritten Posaune erwähnt wird, aber eben auch die muslimischen Heere, die dem Stern folgten, der in der fünften Posaune vom Himmel gefallen war. Sie fielen über die abtrünnige Christenheit her, nachdem der vom Himmel gefallene Stern in der fünften Posaune erwähnt wird: Mohammed.
Die fünfte und sechste Posaune enthalten beide typische Wüstenterminologie. Das ist der Grund, warum es für viele Protestanten und dann für Adventisten, die ihre prophetische Fackel aufnahmen, offensichtlich war, dass die islamischen Invasionen aus der Wüste das göttliche Gericht darstellten über das mittelalterliche abtrünnige Christentum des Oströmischen Reiches in Konstantinopel und über das Heilige Römische Reich im Westen. Dies geschah während des gesamten Mittelalters, vom siebten bis zum neunzehnten Jahrhundert.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Historizismus und Idealismus besteht in der Annahme oder Ablehnung apokalyptischer Daten. Die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten hat den Wert dieser Daten immer verteidigt und sie auf verschiedenen Generalkonferenzen bestätigt. Die Posaunenauslegung, einschließlich ihrer Daten, bestätigte die Generalkonferenz 1883 und 1884. Ellen White bestätigte ebenfalls, was 1883 beschlossen wurde, und warnte, dass der Versuch, Änderungen an der Auslegung der Posaunen zu machen, ein feindlicher Versuch sei, Gottes Volk zu verwirren. Sie warnte auch, dass andere »neue Auslegungen« in der Zukunft dieselbe Folge haben würden, nämlich die Veränderung und Zerstörung der prophetischen Adventbotschaft.
In der neuen Auslegung wurden die Daten der fünften und sechsten Posaune jedenfalls vollständig gestrichen. Warum? Weil keine Daten für die Philosophien festgelegt werden können, die angeblich die Erfüllung dieser beiden Posaunen oder göttlichen Gerichte darstellen. Die moderne theologische Ausbildung neigt in der Regel dazu, die Bibel ihrer transzendenten Rolle zu berauben. Wenn man dies aber mit den prophetischen Daten der Posaunen tut, untergräbt man die protestantische und adventistische historizistische Grundlage der anderen prophetischen Daten von Daniel und Offenbarung.
In der Geschichte gab es zwei klar definierte muslimische Invasionen, die der Araber, die im siebten Jahrhundert begann, und die der osmanischen Türken, die Ende des dreizehnten Jahrhunderts begann. Dies ist in der fünften und sechsten Posaune deutlich zu erkennen. Sogar die Sprache der beiden Posaunen ist ähnlich, denn sie sind von derselben Theologie inspiriert. Diese Tatsache legt es nahe, die Daten der beiden Posaunen nahtlos zusammenzufügen.
In der fünften Posaune erscheint die Angabe von fünf prophetischen Monaten oder 150 Tagen/Jahren der Qual zweimal: einmal am Anfang und einmal am Ende. Seine militärische Erfüllung finden wir in der »ersten Ausbreitung des Islams« unter Abu Bakr im Jahr 632 und dem Friedensvertrag von Harun ar-Rashid vor den Toren Konstantinopels im Jahr 782.
Bei den zweiten fünf Monaten in der fünften Posaune ist der quälende Charakter schon stärker ausgeprägt. Sie erfüllten sich zu Beginn der zweiten islamischen Expansion unter den osmanischen Türken. Diese Expansion begann mit der Schlacht von Bapheus, die der zeitgenössische Historiker Pachimeres auf den 27. Juli datiert. Dieser Historiker erwähnte zwar den Tag und den Monat, aber nicht das Jahr. Doch ein sorgfältiges Studium der zeitgenössischen Quellen erlaubt es uns das Jahr 1299 festzulegen, und nicht das spätere Datum, das einige moderne Historiker angenommen haben.
[Mehr dazu in dem Artikel von Alberto Treiyer: »Papier zur Datierung der Schlacht von Bapheus erscheint in internationaler wissenschaftlicher Zeitschrift: Geht der große Kamp historisch doch vom richtigen Datum aus?«]
Die sechste Posaune
Der Text der beiden Posaunen scheint zu verlangen, dass die beiden prophetischen Daten miteinander verbunden werden. Ähnlich ist es ja auch bei Daniel 8 und 9, wo der Text verlangt, dass die Prophezeiung der 2300 Tage/Jahre mit den 70 Jahrwochen oder 490 Tagen/Jahren gemeinsam betrachtet wird. Während die fünfte Posaune auf die erste Invasion hinweist, die durch Qualen, aber nicht durch Tötung gekennzeichnet war, würde die sechste Posaune die osmanischen Türken loslassen, dieses Mal um zu töten.
150 Jahre nach 1299 erreichen wir 1449, als sich der letzte Kaiser von Konstantinopel dem türkischen Sultan unterwarf und um die Erlaubnis bat, zum Kaiser ernannt zu werden. Dies öffnete Tür und Tor für die osmanischen Türken, die sich nun anschickten, gemäß der sechsten Posaune zu »töten« (Offenbarung 9,13-15). Der in der sechsten Posaune angegebene Zeitraum beträgt eine Stunde, einen Tag, ein Monat und ein Jahr, das sind 391 prophetische Tage oder buchstäbliche Jahre und eine prophetische Stunde oder 15 buchstäbliche Tage. Zählt man zu den 150 Jahren die 391 Jahre und fünfzehn Tage hinzu, erhält man 591 Jahre und 15 Tage. Beginnend am 27. Juli 1299 bringt uns diese kombinierte Zeitspanne zum 11. August 1840. Genau an diesem Tag unterwarf sich der türkische Sultan den europäischen Großmächten und die Belästigung des Westens hörte auf.
Die meisten Reformatoren vom siebzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verstanden den zeitlichen Bezug von Offenbarung 9,15 nach dem prophetischen Tag-Jahr-Prinzip. Doch unter dem Einfluss der Aufklärung und dem anschließenden Werk der »historischen Kritik« an der Bibel wurde dieser Ansatz von den meisten Auslegern der Offenbarung verworfen, auch von den Herausgebern des Andrews‘ Bible Commentary.
Wie erfüllt sich dann aber nach der neuen Auslegung die sechste Posaune? »Die sechste Posaune bringt uns in die Zeit des Endes … Die sechste Posaune beschreibt die große Sammlung von Satans Armee für die Endzeitschlacht von Harmagedon.«
Ellen White hingegen sagt, dass der Abschluss der sechsten Posaune am 11. August 1840 den Glauben der Milleriten stärkte, die kurz darauf die Erfüllung der Prophezeiung über die 2300 Tage/Jahre erwarteten. Wird dieses Datum bei der Auslegung irrelevant, ist zu erwarten, dass dies auch unser historisches Verständnis der Prophezeiung von Daniel 8,14 schwächt, wenn nicht gar zerstört.
Wer die Erfüllung der sechsten Posaune nach 1844 verschiebt, übersieht, dass die sechste Posaune in Jesu Dienst im Heiligen eingebettet ist. Denn dort ist vom goldenen Altar die Rede (Offenbarung 9,13).
Die siebte Posaune
Ellen White sagt als die bekannteste Adventpionierin, dass Jesus 1844 seinen Dienst im Heiligen beendete und seitdem im Allerheiligsten amtiert. »Als Jesus das Allerheiligste betrat, um das abschließende Werk der Versöhnung zu vollbringen, beendete er seinen Dienst in der ersten Abteilung.« (Great Controversy, 428). Das entspricht der siebten Posaune, die sich im Allerheiligsten erfüllt, nicht mehr im Heiligen (Offenbarung 11,19). Dieser Übergang vom Heiligen zum Allerheiligsten zwischen der sechsten und siebten Posaune gerät aus dem Blick, wenn man die sechste Posaune erst nach Ablauf der 2300 Tage/Jahre, also nach 1844 beginnen lässt.
[Laut Johannes geschieht die Öffnung des Allerheiligsten in der siebten Posaune: »Und der Tempel Gottes im Himmel wurde aufgetan, und die Lade seines Bundes wurde in seinem Tempel sichtbar.« (Offenbarung 11,19). Das ist also die Zeit in der wir leben. Die Offenbarung widmet dieser Posaune mehr als sieben Kapitel (11,15 – 19,10)]
Gekürzt aus: Dr. Alberto R. Treiyer, Andrews Bible Commentary, Light. Depth, Truth, Initial Critical Review, March 2023
Mit Präsentationsfolien von Kai Mester
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