Jüngerschaftsdienste im Kontext: Problematisch, berechtigt, geboten? (2/2)

Jüngerschaftsdienste im Kontext: Problematisch, berechtigt, geboten? (2/2)
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Von der Angst, Kontrolle zu verlieren. Von Mike Johnson (Pseudonym)

Lesezeit 18 Minuten

Einige Kritiker meinen, dass Dienste, die Jüngerschaft im Kontext (JK) fördern, zu Synkretismus, also Religionsvermischung, führen.* Darüber lässt sich streiten. Gehen wir hier aber einmal davon aus, dass es tatsächlich so wäre. Dann müssen wir eingestehen, dass viele Gepflogenheiten und Lehren in den heutigen christlichen Kirchen aus adventistischer Sicht ebenso synkretistisch sind. Zwei fallen besonders ins Auge: die Sonntagsheiligung und der Glaube an die unsterbliche Seele. Beide haben ihre Wurzeln im Altertum. Letztere wiederholt gar die Lüge, die die Schlange der Eva am Baum erzählte (1. Mose 3,4). Diese beiden synkretistischen Lehren werden in der letzten Auseinandersetzung des großen Kampfes eine entscheidende Rolle spielen.* Mit diesen einleitenden Gedanken wollen wir nun vier Fallstudien unter die Lupe nehmen.

Fallstudie 1 – Das geistliche Erbe der Adventisten

Das Buch Vom Schatten zum Licht zählt eine ganze Schar Einzelner auf, dazu eine Reihe von Bewegungen, die von Adventisten als geistliche Vorfahren betrachtet werden: die Waldenser, John Wyclif und die Lollarden, William Tyndale, Jan Hus, Martin Luther, Johannes Calvin, Huldrych Zwingli, John Knox, Hugh Latimer, Nicholas Ridley, Thomas Cranmer, die Hugenotten, die Wesley-Brüder und viele andere. Fast alle waren Sonntagshalter und die meisten von ihnen glaubten an die unsterbliche Seele. Sie waren also synkretistische Christen. Außerdem glaubten manche von ihnen an die völlige oder teilweise Vorherbestimmung, die meisten tauften keine Erwachsenen, einige glaubten an die Konsubstantiation (also die Einheit von Leib und Blut Jesu mit Brot und Wein) und nicht wenige unter ihnen verfolgten andere Christen, die von ihrem Glaubensverständnis abwichen.

Gott beruft seine Jünger im Kontext

Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: War Gott, als er diese Einzelnen oder Gruppen berief, nicht auch im Sinne eines JK-Dienstes tätig? (Siehe Teil 1/ Juli 2013) Berief er nicht auch Jünger in ihrem Kontext? Wie viele dieser edlen Männer und Frauen passen eigentlich ins Bild von der vollen Wahrheit, wie Adventisten sie verstehen? Dennoch hat Gott anscheinend über die Lücken in ihrem Glauben hinweggesehen. Er tauchte seine Hände in den Schlamm der mittelalterlichen Religion und theologischen Finsternis, um in einem Prozess der Neuschöpfung Männer und Frauen zu gewinnen, die sich wie einst die Einwohner Ninives nach etwas Besserem sehnten. Dann fing er an, die Wahrheit langsam wiederherzustellen. Genau darum geht es in jedem JK-Dienst. Man begegnet den Menschen dort, wo sie sind, und führt sie Schritt für Schritt auf den Weg der Wahrheit, so weit wie sie folgen können, so langsam oder schnell, wie sie es schaffen, keinen Zentimeter weiter, keine Sekunde schneller.

Zweitens: Wenn Gott jahrhundertelang Geduld hatte, bis das Licht der Wahrheit in der Christenheit wieder ganz aufstrahlte (Sprüche 4,18), warum erwarten wir dann Sofortmaßnahmen und Alles-oder-nichts-Methoden bei der Arbeit in nicht-christlichen Volksgruppen?

Die Geschichte der Reformation, die Adventisten besonders wichtig ist, zeigt, dass (1) Gott JK-Dienste förderte und dass (2) bei der Wiederherstellung der Wahrheit jeder Schritt in die richtige Richtung auch tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung ist. Jeder dieser Schritte ist daher ein Segen und kein Problem. JK-Dienste sind berechtigt, weil sie sich an Gottes vorbildlicher Vorgehensweise orientieren!

Fallstudie 2 – Adventisten und der zeitgenössische Protestantismus

Adventisten freuen sich über ihr protestantisches Erbe und zählen sich selbst zur protestantischen Familie. Manchmal überschlagen sie sich fast, um zu beweisen, dass sie echte, bibeltreue Evangelikale sind. Adventisten geben Tausende von Dollar aus, um ihre Prediger zu Fortbildungen zu schicken, die von anderen Kirchen angeboten werden. Ellen White rät uns, mit anderen Geistlichen und für sie zu beten. Sie sagt, dass sich viele Gotteskinder immer noch in anderen Kirchen befinden. Wir glauben, dass viele sich erst kurz vor dem Ende der Gnadenzeit der Adventbewegung anschließen werden. All das weist darauf hin, dass wir andere protestantische Kirchen als Orte betrachten, wo sich echtes geistliches Glaubensleben entwickeln kann und wo Gottes Geist trotz theologischer Defizite am Wirken ist.*

Wir messen mit doppeltem Maß

Das wirft eine wichtige Frage auf: Wie kommt es, dass wir bei einem Mitprotestanten echten Glauben voraussetzen, obwohl er unreines Fleisch isst, Wein trinkt, den Sabbat bricht, meint, er sei einmal gerettet immer gerettet, das Moralgesetz sei abgeschafft und der Mensch habe eine unsterbliche Seele? Vielleicht hält er die Adventisten möglicherweise sogar für eine Sekte! Einem Menschen aber, der alle Glaubensgrundsätze der Adventisten vertritt, sprechen wir seinen Glauben ab, nur weil er die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis, rezitiert und den Koran liest?

Was für eine Logik! Christen scheinen eine in vieler Hinsicht künstliche Scheidelinie zwischen dem Christentum und allen anderen Religionen zu ziehen. Verdrehungen des Evangeliums werden bereitwillig akzeptiert; sie tragen ja ein christliches Gewand. Echten geistlichen Erweckungen im Ninive-Stil aber spricht man jegliche Glaubwürdigkeit ab, weil sie nicht das Etikett »christlich« tragen. Vor dieser Falle sollten sich Adventisten hüten!

Ich behaupte daher, wer in seinen Mitprotestanten Brüder und Schwestern in Christus sieht, der sollte JK-Jüngern noch offener und herzlicher begegnen. Sie nennen sich zwar nicht Christen, haben aber eine Heilsbeziehung zu Jesus und folgen der Wahrheit oft besser als viele Christen.

Fallstudie 3 – Adventisten und Bewegungen jenseits der »Wahrheit«

Eine dritte Fallstudie beschäftigt sich mit der Verbreitung »adventistischer« Lehren außerhalb des unmittelbaren adventistischen Rahmens. Während die Adventgemeinde sich rasch ausbreitet, machen Lehren, die als adventistisch gelten, außerhalb der Adventgemeinde große Fortschritte. So gibt es zum Beispiel heute über 400 sabbathaltende Gemeinschaften. In der anglikanischen Gemeinschaft hat man die Themen »Hölle« und »Leben nach dem Tod« intensiv studiert, sodass sich heute mehrere herausragende anglikanische Theologen für die Lehre von der bedingten Unsterblichkeit aussprechen. Sollte es uns traurig stimmen, dass diese Gruppen sich nicht in Massen zum Adventismus bekehren? Oder freuen wir uns, dass »unsere« Lehren in nicht-adventistische Kreise dringen? Die Antwort ist zu offensichtlich, als dass man sie ausführen müsste.

Wer sich freut, wenn Nicht-Adventisten »adventistische« Lehren annehmen, sollte sich doch auch freuen, wenn Nicht-Christen durch einen JK-Dienst noch mehr als das annehmen! JK-Dienste verbreiten unseren Glauben außerhalb der Grenzen der Adventgemeinde so, wie es keinem anderen Dienst in den letzten anderthalb Jahrhunderten gelungen ist. Statt uns wegen der wachsenden Zahl der JK-Dienste Sorgen zu machen, haben wir allen Grund zur Freude.

Fallstudie 4 – Andere adventistische JK-Dienste

Eine vierte Fallstudie sollte auch den letzten Zweifel daran ausräumen, dass JK-Dienste zur adventistischen Gesinnung im Widerspruch stehen könnten. Über Jahre haben Adventisten eine Anzahl von Diensten geleistet, um die körperliche und geistliche Lebensqualität anderer zu verbessern, ohne dabei ihre Mitgliedschaft zum Ziel zu haben.

Raucherentwöhnung

Ein klassisches Beispiel ist der 5-Tage-Raucherentwöhnungsplan.* Tausende dieser Kurse sind unter Christen und Nicht-Christen gehalten worden. Für einige war dieses Programm der Anfang eines langen Weges, der dann schließlich zur Mitgliedschaft geführt hat. Für die große Mehrheit jedoch war der Raucherentwöhnungsplan nichts mehr als eben das: ein Plan zur Raucherentwöhnung. Die Autoren des Plans haben geschickt Botschaften über Gott eingebaut in der Hoffnung, dass die Teilnehmer, auch wenn sie sich nicht der Gemeinde anschließen, dennoch eine Beziehung zu Gott beginnen.

Katastrophen- und Entwicklungshilfe

Eine ähnliche Philosophie steckt hinter den Wohlfahrtsprojekten. Wenn Adventisten Katastrophen- und Entwicklungshilfe in Gebieten leisten, wo christliche Mission als Straftat gilt, dann ist an offene Evangelisation gar nicht zu denken. Dennoch besteht immer die Hoffnung, dass die adventistische Gesinnung, die sich im täglichen Umgang widerspiegelt, ihren Einfluss hat, dass sie ein stummer Zeuge für die Wirksamkeit des Evangeliums ist. Wir erwarten nicht, dass dieses Zeugnis andere zur Mitgliedschaft in der Gemeinde bewegt. Wir hoffen aber, dass es Samen sät, die in den Herzen der Nicht-Christen ein klareres Gottesbild entstehen lassen, ein besseres Verständnis des Erlösungsplans und eine höhere Achtung für Jesus im Kontext der jeweiligen Kultur und Religion.

Medienprogramme

Fernseh- und Radiosendungen arbeiten auf ähnliche Weise. Wenn die Adventbotschaft in Länder gesendet wird, die dem Evangelium gegenüber verschlossen sind, kann die Gemeinde bestenfalls hoffen, dass ein winziger Bruchteil der Zuhörer oder Zuschauer ein öffentliches Bekenntnis ablegt und sich der Adventgemeinde anschließt. Doch wir erwarten, dass eine viel größere Anzahl Jesus entweder im Stillen und Geheimen annimmt oder die ein oder andere biblische Wahrheit erkennt und zu einer biblischeren Weltsicht gelangt, und zwar im Kontext der eigenen Kultur oder Religion.

Selbstloser Dienst immer berechtigt

Was will ich damit sagen? Der 5-Tage-Raucherentwöhnungsplan, Katastrophen- und Entwicklungshilfe, Medienprogramme, die in geschlossene Länder ausgestrahlt werden, und ähnliche Dienste sind im Prinzip JK-Dienste, obwohl die Gemeinde sie nicht so nennt. Sie sind JK-Dienste, weil sie Glauben im Kontext entwickeln, einen Glauben, der möglicherweise nie in eine formale Mitgliedschaft münden wird. Wir helfen anderen zu Recht, mit dem Rauchen aufzuhören, Gott zu lieben, die Bibel zu lesen. Verschiedene Dienste lehren zu Recht gute Dinge, obwohl ihre Schüler dem Namen nach Nicht-Christen bleiben! Daher ist es völlig berechtigt, alle adventistischen Glaubensgrundsätze zu vermitteln und die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes auch einer Person anzubieten, die dem Namen nach Nicht-Christ bleibt.

Die Identitätsfrage

Bisher haben wir festgestellt, dass JKDienste mit der Bibel und dem adventistischen Kirchenverständnis im Einklang stehen. Denn Gott möchte das Leben aller Menschen verändern, ob Christen oder Nicht-Christen, weil sie seine Kinder sind.* Adventisten betonen sogar stärker als die meisten Christen, dass Gott überall am Wirken ist, auch in den dunkelsten Winkeln dieser Welt, wo das Evangelium kaum jemals offen in Erscheinung trat. Warum treffen wir angesichts solcher Erleuchtung auf Widerstand gegen JK-Dienste?

Ich glaube, die Antwort liegt in dem Wort »Identität«. Damit ist nicht die Identität der JK-Gläubigen gemeint, sondern unser eigenes Selbstverständnis als Adventisten. Über die letzten 160 Jahre hat sich die Adventgemeinde zu einer sehr engmaschigen und geschlossenen geistlichen Gemeinschaft entwickelt. Wir haben einen klar definierten Glauben und ein präzises Verständnis unserer endzeitlichen Aufgabe.*

Angst um unser Selbstverständnis

Dieses Selbstverständnis wird von JK-Diensten in Frage gestellt. Wenn sich in einem nicht-christlichen Kontext ein Glaube entwickelt, der bei theologischen Grundwahrheiten stehen bleibt, können wir den HERRN loben, weil dies unser Selbstverständnis nicht bedroht. Wenn jener Glaube jedoch eine reifere theologische Ebene erreicht und die Taufe mit einschließt, aber nicht von einer Mitgliedschaft in der Gemeinde begleitet wird, dann ist unser Selbstverständnis als Adventisten in Frage gestellt. Sind JK-Gläubige Adventisten? Wenn ja, warum schließen sie sich nicht der Gemeinde an? Wenn nein, warum werden sie getauft?

Die eigentliche Frage lautet daher: Wie stellen wir uns zu Menschen, die wie wir sind, aber nicht zu uns gehören, vor allem, wenn wir diejenigen sind, die sie zu diesem Punkt gebracht haben? Dass dies die eigentliche Frage ist, geht eindeutig aus der Weise hervor, in der Kritiker das Gemeindehandbuch zitieren. Wie oft zitieren wir aber das Gemeindehandbuch, wenn es um die Gültigkeit des Glaubens anderer Christen geht? Es geht nicht darum, ob JK-Gläubige rechtmäßige Gläubige sind. Die wahre Frage ist, wie wir uns zu ihnen stellen wollen. Es betrifft unser, nicht ihr Selbstverständnis.

Übergangsstrukturen?

Diese Spannung zeigt sich in den Begriffen, mit denen wir JK-Bewegungen beschreiben. Zwei Begriffe stechen heraus. Der Begriff »Übergangsstrukturen« legt nahe, dass ein JK-Dienst sich in einem Übergangsstadium befindet. Zu gegebenem Zeitpunkt erwartet man also, dass er voll in die Gemeinde integriert wird. Der Begriff zeigt auch, dass die Kirche alle Entwicklungen eng überwachen und kontrollieren möchte. Diese Sprache spiegelt unser Problem mit unserem Selbstverständnis wieder. Der Begriff »Übergangsstrukturen« lässt darauf schließen, dass wir nicht zulassen wollen, dass diese Leute Beinahe-Adventisten bleiben. Früher oder später müssen wir etwas unternehmen, damit sie ganz in den Schoß der Kirche aufgenommen werden!

Solche Begrifflichkeit ist eher schädlich als nützlich. An der Basis der Adventgemeinde könnte dies Spaltungen fördern, weil dann andere Dienste (Ministries) entstehen, die nicht ganz einverstanden sind mit der Gemeindepolitik, wie sie im Gemeindehandbuch formuliert ist. Außerdem werfen Übergangsstrukturen ernste Fragen in der Verwaltungsebene auf. Wenn JK-Dienste Übergangsstrukturen sind, wann sollte der Übergang abgeschlossen sein? Wie schnell sollte er vonstattengehen und wie soll er umgesetzt werden? Verwässern wir unsere Identität, wenn wir JK-Gläubige nicht sofort zu Mitgliedern machen?

Hinters Licht geführt?

Die Vorstellung des »Übergangs« ist auch für das Selbstverständnis der JK-Gläubigen schwierig. An welchem Punkt sollten die JK-Gläubigen erfahren, dass sie Siebenten-Tags-Adventisten geworden sind, obwohl sie sich dessen gar nicht bewusst waren? Werden sie sich betrogen fühlen, weil sie die volle Wahrheit ihrer neuen Identität nicht von Anfang an gekannt haben? Werden sich einige gegen den Glauben wenden, den sie angenommen haben?

Staatsfeindliche Geheimoperation?

Außerdem können Übergangsstrukturen zu Problemen mit den religiösen und/oder staatlichen Behörden führen. Wenn JK-Dienste nur eine Fassade für die Christianisierung nicht-christlicher Volksgruppen sind, wird man sie als staatsfeindliche Geheimoperationen betrachten. Das könnte nicht nur diesen Diensten schaden, sondern auch den offiziellen Gemeindestrukturen in der Gastgeberkultur. Das Konzept der Übergangsstrukturen birgt zahlreiche Probleme und dient mehr unserem Wunsch, dass JK-Gläubige sich der Adventgemeinde anschließen, als dem Wunsch, auf die Bedürfnisse der JK-Gläubigen einzugehen.

Parallelstrukturen?

Ein anderer Begriff, der für JK-Organisationsstrukturen verwendet wird, lautet »Parallelstrukturen«.* Dieser Begriff ist schon besser als Übergangsstrukturen, da er Raum dafür lässt, dass eine JK-Bewegung dauerhaft neben der Adventgemeinde existiert, ohne an einem gewissen Punkt den völligen Übergang in die Adventfamilie anzustreben. Doch auch die Vorstellung von Parallelbewegungen oder Parallelstrukturen ist schwierig. Sie lässt darauf schließen, dass die Adventgemeinde sich als Dauermodell und ständiger Aufseher versteht, ja dass sie administrative Verbindungen wünscht. Als Ergebnis haben wir es dann mit denselben Problemen wie bei den Übergangsstrukturen zu tun, wenn auch nicht in dem Ausmaß.

Eigenständige Organisationen

Es erscheint mir der beste Weg zu sein, wenn wir JK-Bewegungen, die aus JK-Diensten heraus entstanden sind, als eigenständige Organisationen ansehen, die über eigene, kontextangepasste Strukturen verfügen. JK-Gläubige können nicht uneingeschränkt adventistischen Erwartungen entsprechen. Versucht man organisatorische Verbindungen herzustellen, so wird dies auf beiden Seiten zu Reibungen führen. Ninive kann hier als Modell dienen. Jona tat dort seinen Dienst, und als das Volk auf seine Botschaft reagierte, entstand eine Reformbewegung mit dem König an der Spitze. Diese Bewegung verlief keinesfalls sofort im Sand. Welche Formen und Strukturen diese Bewegung hatte, wissen wir nicht. Eines ist jedoch klar: Sie hatte keine administrativen Verbindungen zu Jerusalem oder Samaria.

Effizienz und Widerstandsfähigkeit

Wenn wir Ninive als Modell nehmen und JK-Bewegungen als eigenständige Bewegungen stehen lassen, ergeben sich gewisse Vorteile. Erstens kann eine JK-Bewegung das Organisationsgefüge entwickeln, das am besten zu ihrem gesellschaftlichen Wirkungsfeld passt. Die vierstufige Hierarchie, die sich in der Adventgemeinde als sehr erfolgreich erwiesen hat, mag nicht unbedingt das beste Modell in einer nicht-christlichen Kultur sein. Eine eigenständige JK-Bewegung dagegen ist beweglich und anpassungsfähig.

Zweitens kann eine JK-Bewegung ganz natürlich als Insider-Bewegung heranreifen, ohne dass äußere Überlegungen diese Reifung nachhaltig beeinflussen. In anderen Worten: Die Bewegung kann sich in ihr Umfeld hineinformen, ohne sich ständig fragen zu müssen, ob diese Formen der adventistischen Gemeindeleitung genehm sind, die an dieser Bewegung ja völlig unbeteiligt ist.

Drittens kann eine JK-Bewegung als reife Insider-Bewegung wirken, ohne Angst vor dem Entdeckt- oder Entlarvtwerden haben zu müssen. Eine JK-Bewegung mit einer starken eigenständigen Identität darf sich zu Recht als Repräsentant ihrer Kultur fühlen. Sie ist dann kein getarnter christlicher Unterwanderungsversuch.

Risiken und Chancen

Auf der anderen Seite birgt eine organisatorisch eigenständige JK-Bewegung auch Gefahren. Die größte ist, dass die Gastgeberkultur und -weltanschauung die biblische Weltsicht verwässert und am Ende eine synkretistische Bewegung entstanden ist, die schließlich ihre Reformationskraft verliert. Wer mit dem Evangelium in unbekannte Gewässer vorstößt, geht selbstverständlich immer Risiken ein, und die Geschichte bietet viele Beispiele dafür, wie das Evangelium durch Anpassung beeinträchtigt wurde. Doch welche Siege können für das Evangelium errungen werden, wenn man trotz Risiken vorangeht! Sie übertreffen weit die Verluste, die wir einstecken müssen, wenn wir passiv am Wegrand warten, hoffend, dass die verschlossenen Volksgruppen sich eines Tages den vertrauteren C1–C4-Methoden öffnen [siehe Teil 1 des Artikels]. Sie übertreffen auch weit die Verluste, die ein JK-Dienst hinnehmen muss, wenn er von Prozessen und Strukturen abhängig gemacht wird, die sich in einem anderen Teil der Welt befinden, wo man wenig Verständnis für die Lage vor Ort hat. Gründen und fördern wir JK-Dienste, die eigenständige adventistische Insider-Bewegungen auslösen können, so geben wir dem Heiligen Geist die größte Freiheit in Volksgruppen, die lange als unerreichbar galten, schöne Entwicklungen zu bewirken.* Die zeitgenössische christliche Szene bietet Beispiele dafür, dass solche Unternehmungen erfolgreich sein können (z. B. Jews for Jesus).

Es wird sicherlich ein gewisses Maß an Osmose zwischen einer eigenständigen JK-Bewegung und der Adventgemeinde geben. Adventisten, die sich zu JK-Diensten gerufen fühlen, werden übertreten und auf verschiedenen Leitungsebenen in JK-Bewegungen dienen. Im Gegenzug werden JK-Gläubige, die ein reifes theologisches Verständnis entwickelt haben und über die unmittelbaren Strukturen hinaus das größere Bild von Gottes Werk erkennen, als Einzelne in die Adventgemeinde eintreten, wenn dies die Umstände erlauben. Eine offene Zusammenarbeit zwischen den beiden Einheiten kann dort gefördert werden, wo es geeignet erscheint. Aber die Adventgemeinde und eine JK-Bewegung können sich nebeneinander in die gleiche Richtung bewegen und doch völlig eigenständig sein.

Schlussfolgerung

Dieser Artikel hat sich mit verschiedenen Fallstudien aus der Bibel und der Kirchengeschichte beschäftigt. Sind JK-Bewegungen problematisch? In gewisser Hinsicht ja, weil ein JK-Gläubiger nicht völlig den Erwartungen entspricht, die Adventisten an einen reifen Gläubigen stellen. Sind JK-Dienste berechtigt? Die Antwort ist ein doppeltes Ja. Während JK-Gläubige möglicherweise theologisch nicht so reif und gebildet werden, wie wir uns das wünschen, finden wir jedoch in der Bibel und in der Kirchengeschichte eine ganze Menge ähnlicher Beispiele. Dort wurden Menschen vom Heiligen Geist berührt und von Gott gesegnet, die ebenso wenig zur völligen Reife in ihrer Theologie oder ihrem Lehrverständnis gelangten. Es kommt letztlich nicht darauf an, ob ein JK-Dienst Menschen zur völligen Erkenntnis führt, sondern ob er sie in ihrem Umfeld erreicht, wo eine geringe Bibelkenntnis herrscht, und ob er sie dann sanft durch biblische Wahrheit aus der Finsternis zum Licht führt, aus der Unwissenheit zu einer lebendigen Beziehung mit Gott. Dies und nicht die Vollkommenheit des Endergebnisses gibt JK-Diensten ihre Berechtigung. Sind JK-Dienste geboten? Auch hier ist die Antwort ein doppeltes Ja. Der große Auftrag gebietet uns, das Evangelium allen Nationen, Stämmen, Sprachen und Völkern zu bringen. C1–C4-Modelle sind biblisch gesehen die besten und sollten überall dort umgesetzt werden, wo sie umsetzbar sind. Doch in einem Kontext, wo solch ein Modell keine Früchte bringt, sollten Adventisten kreativ sein und Modelle verfolgen, die wirksam sind. JK-Dienste haben sich unter widrigen Umständen als wirksam erwiesen und sind daher nicht nur berechtigt, sondern geboten, wenn die Gemeinde ihren Evangeliumsauftrag erfüllen möchte.

Heute leben viele Niniviten auf dem ganzen Erdball verstreut. Von außen machen sie einen sündigen, entarteten, verdorbenen und geistlich blinden Eindruck, doch tief in ihrem Innern sehnen sich Tausende wie die Einwohner Ninives nach etwas Besserem. Mehr denn je brauchen wir Menschen wie Jona, die, wenn auch noch so zögerlich, den großen Schritt tun: Sie treten aus ihrer Kuschelecke heraus und tun ungewöhnliche Dinge. Damit lösen sie Bewegungen aus, die ebenfalls ungewöhnlich sind und sich vielleicht nie der Adventgemeinde anschließen werden. Sie stillen aber den geistlichen Hunger kostbarer, suchender Seelen und führen sie zu einer Heilsbeziehung mit ihrem Schöpfer. Dieses Bedürfnis zu stillen ist ein Gebot des Evangeliums. Wenn wir uns vom Geist nicht bewegen lassen, verraten wir unseren Auftrag! Dann wird Gott nicht zögern: Er wird andere berufen, die bereit sind zu gehen.

Teil 1

In diesem Artikel sind viele Quellennachweise ausgelassen worden. An diesen Stellen steht ein *. Die Quellen können im englischen Original nachgelesen werden. https://digitalcommons.andrews.edu/jams/.

Aus: MIKE JOHNSON (Pseudonym) in: Issues in Muslim Studies, Journal of Adventist Mission Studies (2012), Bd. 8, Nr. 2, S. 18-26.

Mit freundlicher Genehmigung.

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