Was wir von Hagar lernen können: Barmherzigkeit für Andersdenkende

Was wir von Hagar lernen können: Barmherzigkeit für Andersdenkende
Adobe Stock – Jogimie Gan

… statt Gerangel um den ersten Platz. Von Stephan Kobes

Lesezeit: 14 Minuten

Hagar saß tränenüberströmt da. Stundenlang war sie mit ihrem Sohn ziellos in der Wüste umhergeirrt. Jetzt waren ihre Wasservorräte alle aufgebraucht. Den Jungen hatte sie bereits im Schatten eines Busches zurückgelassen. Was sollte sie machen? Gab es denn niemanden, der ihr helfen wollte? Da hörte sie plötzlich eine Stimme:

»Hab keine Angst! Gott hat das Weinen deines Sohnes gehört.« (1. Mose 21,17)

Erleichtert atmete sie auf! Es gab Hoffnung! Dann fuhr die Stimme fort:

»Steh auf, nimm den Knaben und halte ihn fest an deiner Hand, denn ich will ihn zu einem großen Volk machen!« (1. Mose 21,18)

Dann öffnete Gott ihr die Augen, sodass sie einen Wasserbrunnen erkennen konnte. Rasch füllte sie ihren Schlauch mit Wasser, um damit den Durst ihres Kindes zu löschen!

Aber was macht eine Frau alleine mit ihrem Sohn in der Wüste? Wie kam Hagar überhaupt in diese missliche Lage?

Blick ins Vaterherz: Als Ismael weggeschickt wurde

Abraham galt als mächtiger Fürst und fähiges Oberhaupt. Selbst Könige bewunderten ihn für seinen bemerkenswerten Charakter und sein einzigartiges Leben. Er hatte nie in Prunk gelebt; aber er war »sehr reich geworden an Vieh, Silber und Gold« (1. Mose 13,2). Außerdem hatte Gott Abraham besondere geistliche Segnungen zugesichert:

»Ich will dich segnen und dich zum Stammvater eines mächtigen Volkes machen. Dein Name soll in aller Welt berühmt sein. An dir soll sichtbar werden, was es bedeutet, wenn ich jemand segne.« (1. Mose 12,2 GN)

Aber wer sollte als der rechtmäßige Erbe dieser Segnungen gelten? Ismael, der Erstgeborene? Oder Isaak, der Sohn seiner Hauptfrau?

Abraham hatte zwei Frauen: Sara – seine Hauptfrau – und Hagar, eine ägyptische Sklavin. Mit beiden Frauen hatte er jeweils ein Kind. Als die beiden Söhne Abrahams heranwuchsen, versetzte genau die Frage, welcher Sohn nun als Haupterbe gelten solle, das gesamte Lager in Anspannung. Der Familiensegen schien aus ihrer Mitte zu weichen. Sara machte schließlich ihr Recht als Hauptfrau geltend und forderte ihren Mann auf:

»Jag diese Sklavin und ihren Sohn fort! Der Sohn der Sklavin darf nicht mit meinem Sohn Isaak zusammen erben!« (1. Mose 21,10)

Eine ungewöhnliche Schärfe lag in Saras Worten. Damit deutete sie an, dass sie es ernst meinte. Die Familienkrise hatte sich zugespitzt. Selten hatte solche Uneinigkeit zwischen Abraham und seiner Frau Sara geherrscht. Aber jetzt drohte die Lage zu eskalieren. Abraham bat schließlich Gott um Rat. Darauf erhielt er eine unmissverständliche Antwort:

»Sträube dich nicht dagegen, den Jungen und die Sklavin wegzuschicken! Tu alles, was Sara von dir fordert, denn nur die Nachkommen deines Sohnes Isaak werden das auserwählte Volk sein!« (1. Mose 21,12 Hfa)

Gott hatte ein Machtwort gesprochen: Isaak war der erwählte Haupterbe! Aber hatte Gott Abrahams Sohn Ismael damit verstoßen? Abrahams Vaterherz schmerzte: Auch Ismael war ja schließlich sein Sohn! Wie konnte er ihn so einfach wegschicken? (1. Mose 21,11)

Dann fuhr Gott fort:

»Aber auch den Sohn der Sklavin werde ich zu einem Volk machen, weil er von dir abstammt.« (1. Mose 21,13 GN)

Plan B für Ismael: An Gottes Hand gibt es keine Verlierer

Schon als Abraham zum ersten Mal die Verheißung für Isaak erhielt, hatte Gott ihm versichert: »Und für Ismael habe ich dich auch erhört. Siehe, ich habe ihn gesegnet und will ihn fruchtbar machen und über alle Maßen mehren. Zwölf Fürsten wird er zeugen und ich will ihn zum großen Volk machen.« (1. Mose 17,20) Jetzt erinnerte er Abraham daran als Trost für Vater und Erstgeborenen.

Abraham fasste neue Hoffnung: Auch wenn Ismael nicht der Haupterbe war, hatte Gott einen Plan für dessen Zukunft. Aber zunächst musste er dem Jungen die harte Botschaft überbringen: »Du bist nicht mein Erbe!«

»Da stand Abraham am Morgen früh auf und nahm Brot und Wasser, gab es Hagar und legte es auf ihre Schulter; er gab ihr auch den Knaben und schickte sie fort. Und sie ging und irrte umher in der Wüste von Beerscheba.« (1. Mose 21,14)

Wohlwollen für den Verstoßenen: eine Mutter an der Seite

Hagar war verzweifelt. Es war eine harte Nachricht für sie. Aber was musste es erst für den Jungen bedeuten! Man kann den Kampf nicht nachempfinden, der sich in seinem Herzen abgespielt haben muss. Denn was passiert, wenn eine enttäuschende Nachricht auf das Gemüt eines Teenagers trifft? Die Intensität der Gedanken und Gefühle lässt sich mit menschlichen Worten sicher kaum beschreiben!

Aber der beste Erzieher aller Zeiten wusste, was zu tun war. Gott sprach zu Hagar:

»Steh auf, nimm den Knaben und halte ihn fest an deiner Hand!« (1. Mose 21,18)

Eine warme Hand ist in den schweren Stunden des Lebens manchmal eine bessere Antwort als lange Beweisführungen. Damit sagt man: »Ich bin bei dir! Hab keine Angst! Es gibt einen Ausweg!« Das war die göttlich verordnete Medizin, die Hagar ihrem Sohn Ismael als erstes geben sollte! Danach erst wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Ort gelenkt, an dem das lebensspendende Wasser aus dem Wüstenboden quoll.

An dieser Stelle lohnt es sich, kurz innezuhalten:

»Halte ihn fest an deiner Hand« lautete die göttliche Anweisung! Das war das Allererste, was Hagar tun sollte, um Ismael zu der Quelle zu führen, aus der das kostbare Nass hervorsprudelte.

Galten diese Worte nur Hagar? Oder hat Gott hier etwa einen Rat gegeben, der auch in allen nachfolgenden Generationen für den Umgang mit Ismaels Nachfahren gelten sollte?

Es ist markant, dass es offensichtlich nicht Gottes Plan war, das turbulente Gemüt Ismaels mit langen Diskussionen und theologischen Beweisführungen zu beruhigen. Nein! Gott hatte an dieser Stelle nur gesagt: »Halte ihn fest an deiner Hand«!

Dabei stellt sich die Frage: Haben Christen Gottes wohlwollenden Rat in die Tat umgesetzt? Haben sie die Kinder Ismaels fest an der Hand gehalten, sie begleitet, zu ihnen gestanden, und ihnen so die freundliche Menschenliebe ihres Heilandes erfahrbar gemacht? Haben sie den Kindern Ismaels als Erstes erzählt, dass sie nicht verlassen sind (anstatt ständig die harte Botschaft zu wiederholen, sie seien nicht die Haupterben)?

Vielleicht war es gerade die Tatsache, dass diesem wohlwollenden Rat Gottes so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die im Verlauf der Jahrhunderte so viel unnötige Unruhe und Widerstand provoziert hat.

Die Hauptrolle in dieser Auseinandersetzung um das Erbe Abrahams nehmen zwei Frauen ein: Sara und Hagar.

Treue und Vertrauen zahlen sich aus

Sara bestand darauf, Ismael aus dem Vaterhaus auszuschließen. Dabei schien sie fast vergessen zu haben, dass es in erster Linie ihr Begehren war, das Ismaels traurige Lage mitzuverantworten hatte. Die andere Frau – Hagar – hatte im Sinn, ihrem Sohn Ismael das Leben zu retten. Sie war bereit, alles zu tun, um ihn als Ausgestoßenen nicht allein zu lassen.

Aber was hatte Gott dazu zu sagen?

Als Sara ihren Mann Abraham aufforderte, Ismael aus dem Vaterhaus auszuschließen und ihm das Erbrecht zu verweigern, sagte Gott:

»Höre in allem, was Sara dir sagt, auf ihre Stimme! Denn in Isaak soll dir ein Same berufen werden.« (1. Mose 21,12)

Das war für Abraham ein harter Schlag. Aber natürlich auch für Hagar! »Ich kann das Sterben des Knaben nicht mit ansehen!« (1. Mose 21,16), sagte sie laut weinend. Auch ihr Kind sollte doch einen Platz im Vaterhaus haben! Aber Gott hatte Saras Anspruch für rechtmäßig erklärt.

»An dir soll sichtbar werden, was es bedeutet, wenn ich jemand segne«, hatte Gott zu Abraham gesagt (1. Mose 12,2 GN). Aber das Erbe Abrahams und die Segnungen Gottes können dabei nicht leichtfertig verteilt werden. Damit diese Wahrheit in ihren rechten Stand gehoben werden konnte, gab Gott Saras Ansinnen nach. Das Erbe Abrahams kann nämlich – ebenso wie das Erbe Gottes – nicht auf jede erdenkliche Weise erlangt werden.

Sara war die Verteidigerin des wahren Glaubens, des Gesetzes Gottes, und des wahren Bundes. Sie wusste: Niemand kann das Erbe Gottes und den Platz im himmlischen Vaterhaus mit menschlichen Mitteln erzwingen: Allein das Kind des wahren Bundes, das allen Anweisungen Gottes folgt und allen seinen Zusagen vertraut, hat den Weg eingeschlagen, auf dem man dieses Ziel erreichen kann (Galater 4,21-31). Das ist der Anspruch wahrer Religion.

Damit diese absolute Wahrheit auch über die Jahrhunderte hinweg mit Kraft gepredigt werden würde, gab Gott Sara Recht – die die Ansprüche dieser Wahrheit, die absoluten Ansprüche einer wahren Religion vertrat.

Barmherzigkeit rettet Enttäuschte und Verstoßene

Aber was ist jetzt mit Hagar? Hatte Gott auch einen Plan für sie?

»Ich kann das Sterben des Knaben nicht mit ansehen!«, sagte sie, als sie mit ihrem Sohn das Lager Abrahams verlassen musste (1. Mose 21,16). Das Leben Ismaels war in ihren Augen wertvoll. Das zeigte sie in Wort und Tat! Hagar hatte ein Herz für den Ausgestoßenen.

»Ich kann das Sterben des Knaben nicht mit ansehen!« – Spricht sie damit nicht all jenen aus dem Herzen, die das Schicksal verstehen, was ein Mensch, der vom Vaterhaus abgeschnitten ist, unweigerlich erleiden muss? Das Leben fern vom Vaterhaus ist ja nicht viel besser als das Leben in einer heulenden Wüste.

Aber Hagar scheute keine Opfer, um dem Verstoßenen nahe zu kommen. Auch das belohnte Gott reichlich: Während Sara vehement die Wahrheit verteidigte, die den Weg zum Vaterhaus beschrieb, übertrug Gott Hagar eine andere Aufgabe: die der Lebensrettung!

Ja, Gott hatte den Anspruch Saras gebilligt. Aber als er sich Hagar näherte, machte er deutlich, was mit dem zu tun war, der das Erbrecht verloren hatte: »Steh auf, nimm den Knaben und halte ihn fest an deiner Hand!« (1. Mose 21,18) Das war die erste göttliche Anweisung. Alles, was folgte, sollte ebenfalls in diesem Geist geschehen.

Es war Hagar – nicht Sara –, die diese Worte ernst nahm. Damit war auch Hagar – nicht Sara – die Frau, die Gott benutzen konnte, um den armen Wüstenwanderer zu einer lebensspendenden Quelle zu führen. Was für ein Erfolg!

Wir sind nur gemeinsam komplett

Daraus lässt sich eine wichtige Lektion ableiten: Saras Haltung präsentiert nur eine Wahrheit aus Gottes Heilsplan. Hagars Handlungsweise hingegen komplettiert das Bild. Die Art, wie Gott sich in diesem Streit offenbarte, zeigt uns, wie wir uns positionieren sollten: All jene, die nach Gottes Rat leben wollen, brauchen sich weder ausschließlich auf der Seite Saras, noch auf der Seite Hagars einzuordnen. Anstatt sich miteinander zu streiten, können diejenigen, die Gottes Charakter nachahmen, all ihre Kräfte aufwenden, um mit den klarsten Worten den Weg zu beschreiben, der zum Vaterhaus führt, während sie gleichzeitig die Hand zu Angehörigen anderer Religionen ausstrecken, um ihnen Halt und Stütze zu geben, anstatt ihnen allein das Recht am Vaterhaus abzusprechen!

Wie viel erfolgreicher hätten wir im Umgang mit Abrahams streitenden Kindern sein können, wenn wir Gottes Wesen klarer repräsentiert hätten!

»Wer ist der wahre Erbe?« Nur Vertrauen zählt!


Auch heute beschäftigt eine Frage das Lager Abrahams. »Wer ist der wahre Erbe?«

Dabei beziehen sich alle drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – auf ihre Abstammung von Abraham. Leider wird die Frage »Wer ist der wahre Erbe?« allzu häufig mit dem Anspruch »Wer ist der Größte unter uns?« verwechselt. Aus diesem Grund leben so viele Juden, Christen und Muslime mit ihren Ansprüchen in ständiger Auseinandersetzung. Anstatt sich gegenseitig die Hände zu reichen, machen sie sich den Anspruch am Vaterhaus streitig.

Aber wer ist der wahre Erbe? Die Bibel gibt darauf eine klare Antwort:

»Wenn ihr aber Christus angehört, so seid ihr Abrahams Same und nach der Verheißung Erben.« (Galater 3,29)

Das ist ein exklusiver Anspruch. Aber er ist – ebenso wie im Falle von Sara – von Gott gebilligt: »Denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir gerettet werden sollen!« (Apostelgeschichte 4,12)

Dabei kann diese Wahrheit unter Andersgläubigen heftige Emotionen hervorrufen. Aber wie gehen wir damit um?

»Steh auf, nimm den Knaben und halte ihn fest an deiner Hand.«

Wollen wir wirklich zulassen, dass die Kinder Abrahams in der Wüste umherirren und dort wegen unserer Nachlässigkeit verdursten?

Alle, die die harte Wahrheit erkennen, dass nicht alle, nur weil sie Abrahams Same sind, auch gleich Abrahams Haupterben sind (Römer 9,7) können als nächstes ihre Herzen und Hände ausstrecken, um ihre Brüder und Schwestern aus der Nachkommenschaft Abrahams mit herzlichem Griff an die Hand zu nehmen. Auf diese Weise können sie ihnen Halt und Stütze geben (nämlich so lange, bis auch diese dahin kommen, das rettende Evangelium Gottes anzuerkennen – denn an dieser Stelle macht Gott keinen Unterschied zwischen Abrahams Kindern: »Alle haben denselben HERRN, der reich ist für alle, die ihn anrufen, denn: ›Jeder, der den Namen des HERRN anruft, wird gerettet werden‹.« (Römer 10,12.13)

»Das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.« (Johannes 4,14)

Als Hagar dem Rat Gottes folgte, öffnete er ihr als nächstes die Augen, sodass sie einen Brunnen sah. Hagar musste dafür gar nicht weit reisen. Sie fand die Quelle ganz in ihrer Nähe. Mitten in der Wüste!

Auch heute kann uns derselbe Gott dann zeigen, an welchen Stellen das kostbare Lebenswasser aus der Erde quillt, dass die armen Wüstenwanderer so dringend brauchen. Er hat ja versprochen:

»Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst« (Offenbarung 21,6)

Lasst uns alle Kinder Abrahams an die Hand nehmen, und im Herzen fest an der Hand halten, bis auch sie Jesus als persönlichen Erlöser anerkennen – denn »wenn ihr aber Christus angehört, so seid ihr Abrahams Same und nach der Verheißung Erben« (Galater 3,29).

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