So viel praktischer …! Von Kai Mester
Agape, die göttliche, selbstlose Liebe. Feindesliebe. Das Ergebnis einer Entscheidung, Prinzip, keine Emotion. So hört man es immer wieder in Predigten, liest es in Artikeln.
Griechische Wörter aus dem Neuen Testament haben in der Theologiegeschichte für ganze Lehren herhalten müssen.
Oft hat das bei mir ein schales Gefühl hinterlassen. Denn es wirkt ähnlich steril wie Mathematik und Philosophie, nur dass diese oft faszinierender sind. Ist Agape vom griechischen Denken geprägte Theologie? Bleibt da nicht selten alles Theorie, wird zur Ideologie und steht leider allzu häufig im Kontrast zur Lebenspraxis?
Als Jugendlicher hatte ich den Wunsch, Theologie zu studieren. Nach meinem Zivildienst entschied ich mich dann aber doch ganz kurzfristig für ein Sprachenstudium, weil mir jemand nach einem konkreten Gebet in der Sache dringend vom Theologiestudium abriet. Damals eine überraschende Wende für mich.
Statt Griechisch stand nun bei mir Hebräisch im Mittelpunkt. Das hat meinen Zugang zur Bibel sehr verändert. Heute bin ich dankbar dafür. Denn mir ist klar geworden, dass die neutestamentlichen Schreiber sich des Griechischen nur als Weltsprache bedient haben, um damit so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Ihr Denken aber blieb Hebräisch.
Und im Hebräischen ist das wichtigste Wort für Liebe Chesed. Dieses Wort umfasst auch die Begriffe Barmherzigkeit, Gnade, Gunst, Huld, Treue, Güte und ist immer verbunden mit der Lebenspraxis bzw. kommt erst in ihr zum Ausdruck. Dieses Wort ist also durchaus voller Emotion und Leidenschaft. Sprachen die Apostel also nicht vielleicht doch von dieser Liebe, wenn sie den Begriff Agape verwendeten?
Im Leben von Naomis Schwiegertöchtern Ruth und Orpah wird diese Liebe deutlich. Was für eine Hingabe sprach aus ihrem Leben, dass Naomi sagen musste: »Der HERR tue an euch Chesed, wie ihr an den Toten und an mir getan habt.« (Ruth 1,8)
Die Bibel beschreibt diese Liebe an vielen Stellen: »Danket dem HERRN; denn er ist freundlich, und seine Chesed währet ewiglich.« (Psalm 118,1) »Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Chesed.« (Jeremia 31,3) »Denn ich habe Lust an Chesed und nicht am Opfer« (Hosea 6,6).
Ein Mensch, der Chesed verinnerlicht hat, ist ein Chassid, ein Liebender, Frommer, Gottesfürchtiger, Barmherziger, Heiliger: »Liebet den HERRN, alle seine Chassidim!« (Psalm 31,23) »Die ihr den HERRN liebet, hasset das Arge! Er bewahrt die Seelen seiner Chassidim.« (Psalm 97,10)
Auch das andere hebräische Wort für Liebe, Ahava, hat nicht den vergeistigten, entkörperlichten Beigeschmack, den das griechische Konzept von Agape unter Umständen erzeugen kann.
»Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Ahava ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. Auch viele Wasser können die Ahava nicht auslöschen noch Ströme sie ertränken.« (Hoheslied 8,6.7)
Wer von diesem Feuer erfasst wird, dessen Glaube bleibt keine geistliche Übung, keine innere Einstellung, kein Lippenbekenntnis, kein Wohlfühlevangelium, das sich an einer Checkliste qualifiziert. Dieses Feuer verbindet mit dem Allmächtigen und dem Mitmenschen. Dieses Feuer erwärmt die Welt!
Vielleicht klingt der folgende Abschnitt jetzt ganz neu in unseren Ohren:
»Ihr mit Chesed Beschenkten, lasst uns einander Chesed erweisen; denn Chesed ist von Gott, und wer Chesed praktiziert, der ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer Chesed nicht praktiziert, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Chesed … Und wir haben erkannt und geglaubt die Chesed, die Gott zu uns hat: Gott ist Chesed; und wer in der Chesed bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm … Furcht ist nicht in der Chesed, sondern die vollkommene Chesed treibt die Furcht aus … Lasst uns Chesed weitergeben, denn er hat uns zuerst mit Chesed beschenkt. Wenn jemand spricht: Ich habe Chesed für Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinem Bruder keine Chesed erweist, den er sieht, der kann nicht Gott Chesed erweisen, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott Chesed schenkt, dass der auch seinem Bruder Chesed schenke.« (1. Johannes 4,7.8.16.18.19–21 paraphrasiert)
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