Heilung für Geist und Seele (Teil 5): Gewohnheiten aus neurophysiologischer Sicht

Heilung für Geist und Seele (Teil 5): Gewohnheiten aus neurophysiologischer Sicht
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Wie die Neuroplastizität unseres Gehirns zeigt, dass Heilung für jeden möglich ist. Von Elden Chalmers

Sind Sie heute Morgen zuerst in den rechten oder den linken Schuh geschlüpft? Mussten Sie da überlegen? Heute Morgen haben Sie sicher nicht überlegt. Wahrscheinlich sind Sie in denselben Schuh geschlüpft wie immer – aus Gewohnheit. Wäre es nicht schrecklich, wenn wir uns jedes Mal beim Schuhe-Anziehen die Frage stellen müssten: »Welchen soll ich zuerst anziehen?«

Bitten Sie einmal jemand, der das Zehnfingersystem perfekt beherrscht, Ihnen ohne Hinschauen zu sagen, wo sich der Buchstabe M oder R auf der Tastatur befindet. Muss er nachdenken? Beim Tippen jedenfalls nicht – denn die Gewohnheit dirigiert die Finger wie von selbst.

Gewohnheiten können viel Zeit und Energie sparen. Sie entstehen durch häufiges Wiederholen. Mit Ausnahme von ein paar einfachen Reflexen werden Gewohnheiten zuerst im Gehirn und dann im restlichen Körper gespeichert.

Das gesamte Gehirn arbeitet mit einer Stromleistung von 10 Watt! Vollbringt es dafür nicht eine fantastische Meisterleistung? Mit 10 Watt kann das Gehirn mehr mathematische Berechnungen durchführen, als es dem größten Rechner auf der Welt bei gleicher Wattzahl möglich wäre.

Stellen wir uns eine Gehirnzelle vor, die beispielsweise gerade eine Rechenaufgabe gelöst hat. Sie hat von tausend anderen Nervenzellen positive und negative elektrische Impulse im Millivoltbereich empfangen und hat darüber eine Entscheidung getroffen, ob sie ein elektrisches Signal weitergeben soll oder nicht. Das alles vollbringt sie in einer tausendstel Sekunde!

Wie entstehen eigentlich Gewohnheiten im Gehirn? Wie werden Gedanken, Worte und Handlungen, die man immer wiederholt, zu einem dauerhaften Bestandteil des Gehirns? Man weiß heute, dass im Gehirn Botschaften bearbeitet und über Nervenzellen an verschiedene Körperteile weitergeleitet werden. Jede Nervenzelle besteht aus a) einem Zentrum, dem Zellkern, b) der Flüssigkeit, die diesen umgibt, dem Zellplasma und c) aus einer Außenwand, der sogenannten Membran.

Von dieser Membran gehen viele kleine Fortsätze nach außen weg, die sogenannten Dendriten. Sie empfangen die Signale und ein besonders langer Fortsatz, das Axon, übermittelt sie an die Nachbarzellen.

Zwischen dem Axon einer Zelle und dem Dendriten einer anderen Zelle besteht ein winziger Spalt: die Synapse. Während Dr. Eccles diesen synaptischen Spalt mit einem Elektronenmikroskop untersuchte, entdeckte er winzige Verdickungen auf dem äußersten Ende des Axons, die wie kleine Knöpfe aussahen. Daher nannte er sie Boutons – das französische Wort für Knöpfe.

Heute weiß man, dass es diese kleinen Boutons in unterschiedlicher Form und Größe gibt. Man weiß auch, dass sie verschiedene chemische Substanzen enthalten und abgeben. Eine davon heißt Acetylcholin. Diese Substanz wird in den winzigen Spalt, die Synapse, ausgeschüttet und regt die nächste Zelle dazu an, das elektrische Signal weiterzuleiten.

Neurowissenschaftler haben entdeckt, dass alle Gedanken und Handlungen, die oft wiederholt werden, diese kleinen Boutons am Ende gewisser Nervenfasern aufbauen, sodass es leichter wird, beim nächsten Mal denselben Gedanken oder dieselbe Tat zu wiederholen.

Dr. William Sadler beschreibt, dass Gewohnheiten buchstäblich Nervenbahnen anlegen und die häufige Wiederholung eines Gedankens, Gefühls oder einer Tat genauso eine tiefe »Furche« erzeugt, wie das ständige Laufen über einen Rasen schließlich einen ausgetretenen Trampelpfad (William Sadler, Practice of Psychiatry, 949).

Bei meinem Besuch bei Dr. Wilder Penfield erzählte er mir, dass seine Versuche am Gehirn der Patienten, die am offenen Schädel operiert wurden, gezeigt haben, dass Nervengewebe mit jeder Reizung immer rascher reagiert. Es ist natürlich ernüchternd zu wissen, dass alle wiederholten Gedanken, Gefühle oder Handlungen unsere Nervenbahnen physikalisch und chemisch verändern. Je tief greifender diese Veränderungen sind, desto mehr werden sie uns entweder zum Segen oder zum Fluch. Das hat natürlich Auswirkungen auf unsere mentale bzw. emotionale Gesundheit und die Bildung unseres Charakters!

»Was ein Kind sieht und hört gräbt tiefe Furchen in sein junges Gehirn, die kein späterer Lebensumstand wieder völlig auslöschen kann … Wiederholte Handlungen bei einer bestimmten Vorgehensweise werden zu Gewohnheiten. Sie können im späteren Leben durch intensives Training abgeändert, selten aber völlig verändert werden.« (Ellen White, Child Guidance, 199.200)

Immer wenn ich über dieses Thema einen Vortrag halte, stellt jemand die Frage: »Verschwinden diese Boutons denn nie mehr?« Im Augenblick sieht es so aus, als ob die Bahnen, auf denen diese Boutons zu finden sind, erst dann allmählich schmaler werden, wenn sie jahrelang nicht gebraucht wurden.

Gewohnheiten bilden eher dauerhafte Bahnen im Gehirn. Nur wenn eine Gewohnheit viele Jahre lang nicht praktiziert wird, wird sie zurückgebildet. Gewohnheiten können jedoch überwunden werden, indem man andere Gewohnheiten bildet, die stärker sind als die, die man überwinden möchte.

Fortsetzung            Teil 1 der Serie

Elden M. Chalmers, Healing the Broken Brain, Science and the Bible Reveal How the Brain Heals, Remnant Publications, Coldwater, Michigan, 1998, S. 27-30

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