Paulus blieb Jude und Pharisäer: Konnte er nur so seinen Auftrag für alle Völker erfüllen?

Paulus blieb Jude und Pharisäer: Konnte er nur so seinen Auftrag für alle Völker erfüllen?
Apostel Paulus predigt das Wort Gottes in der Synagoge Adobe Stock – SVasco

Wirf mit uns einen revolutionären Blick auf diesen Rabbi, der von vielen als eigentlicher Begründer des Christentums angesehen wird. Von Kai Mester

Lesezeit: 10 Minuten

Paulus hatte ein entscheidendes Erlebnis auf seinem Weg nach Damaskus. Was es bedeutete, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Viele meinen, er habe sich in der Folge zum Christentum als einer neuen Religion bekehrt. Damit habe er seinen Weg aus dem Judentum heraus begonnen. Paulus steht für viele als derjenige, der das Heidenchristentum geformt und eine Distanz zum Judentum aufgebaut hat.

Ein Blick in die Apostelgeschichte und seine Briefe macht da aber unsicher. Vielleicht war Paulus ja doch bis zu seinem Tod viel jüdischer als gedacht?

Von Mutterleib an

»Gott hatte mich schon im Mutterleib ausgewählt und in seiner Gnade berufen. Als es ihm dann gefiel, mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich die Freudenbotschaft von ihm unter den nichtjüdischen Völkern bekannt machte, habe ich nicht erst Menschen um Rat gefragt.« (Galater 1,15-16 NEÜ)

Wenn Gott eine Person schon im Mutterleib auswählt, dann beginnt er von frühester Jugend an mit der Vorbereitung dieses Werkzeugs. Zu dieser Vorbereitung gehörte auch seine Ausbildung zum Pharisäer:

Paulus blieb Pharisäer

»Brüder, ich bin Pharisäer und stamme von Pharisäern. Wegen meiner Hoffnung stehe ich hier vor Gericht, weil ich glaube, dass die Toten auferstehen!« (Apostelgeschichte 23,6 NEÜ)

Paulus macht hier deutlich, dass er sich auch nach seiner Bekehrung, ja nach jahrelangen Missionsreisen, immer noch als Pharisäer sah. Ihr besonderes Merkmal im Unterschied zu den Sadduzäern war ihr Glaube an die Auferstehung. Außerdem glaubten sie, dass Gottes Unterweisung und Liebe auch den einfachen Menschen gelten. Er erklärt:

»Ich bin ein Jude, wurde in der Stadt Tarsus in Zilizien geboren und wuchs hier in Jerusalem auf. Ich bin bei Gamaliel in die Schule gegangen. Zu seinen Füßen erhielt ich eine gründliche Ausbildung im Gesetz unserer Väter. Ich entwickelte großen Eifer darin, Gott zu ehren, genauso wie ihr alle es heute tut.« (Apostelgeschichte 22,3 NL/NEÜ)

»Einige Gesetzeslehrer von der Partei der Pharisäer sprangen auf und protestierten heftig gegen eine Verurteilung von Paulus. ›Wir können an diesem Menschen nichts Unrechtes finden‹, erklärten sie. ›Wer weiß, vielleicht hat tatsächlich ein Geist oder ein Engel zu ihm gesprochen!‹« (Apostelgeschichte 23,9 NGÜ)

Abkehr von menschlichen Traditionen

Paulus war also nach seiner Bekehrung nicht nur Jude, sondern auch Pharisäer geblieben. Sein neu gefundener Glaube an Jesus als den Messias, stand für ihn in keinem Widerspruch dazu. Aber eine große Änderung war eingetreten: Paulus hatte sich von den menschlichen Satzungen und Traditionen abgewandt, die über die Jahrhunderte ins Judentum eingedrungen waren:

»Ihr wisst sicher noch, wie ich als strenggläubiger Jude war – wie fanatisch ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Ich tat alles, um sie zu vernichten. In meinem Volk war ich einer der Allerfrömmsten und bemühte mich nach Kräften, die überlieferten Satzungen meiner Väter zu befolgen.« (Galater 1,13-14 NL)

Manche christlichen Theologen betonen, dass der griechische Begriff ekklesia (εκκλησια/Gemeinde) von der wörtlichen Bedeutung »herausrufen« stammt. Deshalb ist die Gemeinde für sie die Gruppe derer, die aus dem Judentum oder Heidentum herausgerufen wurden in die Christusnachfolge. Übersehen wird dabei, dass dieser Begriff das ganz gewöhnliche Wort für Versammlung, Gemeinde war. Schon in der griechischen Bibelübersetzung Septuaginta wurde es für die Gemeinde (qahal/קהל) am Fuß des Sinai verwendet.

Apostel für Heiden und Juden

Gott berief Paulus nach seiner Bekehrung nicht nur zum Heidenapostel, sondern genauso zum Judenapostel. Die Reihenfolge dieser beiden Aufträge im folgenden Vers ist besonders spannend.

»Doch der HERR sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel.« (Apostelgeschichte 9,13)

Paulus hatte sich nicht vom Judentum getrennt. Er bekehrte sich vielmehr zu einer neuen Strömung im pharisäischen Judentum, die Jesus nachfolgte und auf seine Rückkehr wartete. Paulus war ein adventistischer Jude mit Naherwartung geworden.

Warum änderte Saulus seinen Namen?

Warum nannte er sich nun Paulus und nicht mehr Saulus? Griechische Juden hatten oft zwei Namen, einen hebräischen und einen römischen wie zum Beispiel der junge Mitarbeiter von Paulus und Barnabas: Johannes Markus (Apostelgeschichte 12,12).

Ich bin »beschnitten am achten Tag, aus dem Geschlecht Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, im Hinblick auf das Gesetz ein Pharisäer.« (Philipper 3,5 SLT)

Als Benjaminiter passt der Name Scha’ul sehr gut. Denn auch der erste König Israels war Benjaminiter und hieß Scha’ul. Sein Lehrer Gamaliel, ein Sohn des berühmten Rabbi Hillels, war ebenfalls aus dem Stamm Benjamin.

Während Saul durch seine große Gestalt auffiel, bedeutet Paulus »Kleiner«. Möglicherweise hat er sich deshalb lieber fortan bei seinem zweiten Namen rufen lassen. Die folgenden Verse weisen sehr stark darauf hin.

»Denn ich bin der Geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.« (1. Korinther 15,9) »Mir, dem Allergeringsten unter allen Heiligen, ist die Gnade gegeben worden, den Heiden zu verkündigen den unausforschlichen Reichtum Christi.« (Epheser 3,8) »Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.« (2. Korinther 12,9)

Das Zentrum der Theologie des Paulus: Ein Gott für alle

Paulus verstand das Schma Jisrael auf ganz besondere Weise. Hier der Wortlaut des Schma, das Juden täglich beten: »Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.« (5. Mose 6,4)

Das Verständnis dieses Gebets, das die Grundlage von Paulus Theologie bildete, wird in folgenden Aussagen deutlich:

»Ist Gott allein der Gott der Juden (»unser Gott«)? Ist er nicht auch der Gott der Heiden (»ein Gott«)? Ja gewiss, auch der Heiden. Denn es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den Glauben.« (Römer 9,29-30)

»Was nun das Essen von Götzenopferfleisch angeht, so wissen wir, dass es keinen Götzen gibt in der Welt und keinen Gott als den einen. Und obwohl es solche gibt, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.« (1. Korinther 8,4-6)

Juden und Heiden gleichwertig und doch verschieden

Paulus ging es darum, dass die frohe Botschaft zu allen Völkern gelangt. Er glaubte, dass Juden und Griechen vor Gott gleich sind:

»Hier ist nicht Jude noch Grieche … hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Galater 3,28)

Aber er hob den Unterschied zwischen beiden genauso wenig auf, wie er sich für Gender Mainstreaming ausgesprochen hätte. Er befürwortete den Ansatz des Naëman: »Dein Diener wird künftig keinem anderen Gott mehr Opfer bringen als nur JHWH.« (2. Könige 5,18) Dennoch kehrte Naëman in sein Land zurück und war Gottes Zeuge in seinem eigenen Volk in Aram (Syrien). Im Unterschied zu Ruth hätte er wahrscheinlich gesagt: Dein Gott ist mein Gott, aber mein Volk bleibt immer noch mein Volk.

Warum wurden Heiden von Gesetzen befreit, die speziell den Juden galten?

Die Judaisierer in Galatien wollten, dass alle bekehrten Heiden es machen wie Ruth. Sie sollten also sagen: Dein Volk ist mein Volk! Doch Paulus wollte, dass Gottes Verheißungen sich erfüllen, damit Gott in allen Völkern angebetet wird. Darum wehrte er sich dagegen, dass Nichtjuden sich beschneiden lassen. Deshalb wurde Paulus aber nun von einigen Juden angefeindet.

Das Apostelkonzil schloss sich der Meinung des Paulus an, befreite die Heiden von der Erwartung zum Judentum konvertieren zu müssen und speziell jüdische Vorschriften aus der Torah zu erfüllen. Er empfahl ihnen aber sich an alles in der Torah zu halten, was Gott zum Wohl aller Menschen verordnet hatte, und zwar mit der Begründung:

»Denn Mose hat von alten Zeiten her in allen Städten solche, die ihn predigen, und wird an jedem Sabbat in den Synagogen gelesen.« (Apostelgeschichte 15,21) Explizit genannt wurden die Götzen-, Keuschheits- und Reinheitsgesetze als solche, nach denen sich auch die Heiden richten sollen.

Den Juden zuerst

Paulus gab dem Volk Israel den Vorrang, ähnlich wie er der Verantwortung des Mannes Vorrang vor der Verantwortung der Frau gab:

»Not und Angst wird über alle hereinbrechen, die nicht aufhören zu sündigen – über die Juden zuerst genauso wie über alle anderen Menschen. Denen aber, die Gutes tun, wird Gott Herrlichkeit, Ehre und Frieden schenken – den Juden zuerst, aber auch allen anderen Menschen.« (Römer 2,9-10 NL)

Diese Reihenfolge wurde schon in der hebräischen Bibel von den Propheten als Evangelium verkündigt:

»Der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.« (Jesaja 52,10)

Paulus liebte die Torah

Paulus liebte die Torah, Gottes Weisheit und Unterweisung, denn sie hat ihn zu Jesus, der fleischgewordenen, lebendigen Torah, gebracht:

»Denn durch die Torah bin ich der Torah gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit dem jüdischen Gesalbten gekreuzigt. Jetzt lebe nicht mehr ich, sondern der Gesalbte lebt durch seinen Geist als lebendige Torah in mir. Und das Leben, das ich jetzt noch in meinem sterblichen Körper führe, das lebe ich im Vertrauen auf den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich ausgeliefert hat. Diese Gnade Gottes werde ich doch nicht zurückweisen. Denn wenn wir durch die hebräische Torah allein von Sünde frei würden, dann wäre der Gesalbte umsonst gestorben.« (Galater 2,19-20 NEÜ und Paraphrase)

Die unbezwingbare Vision des Rabbi Paulus

Paulus, der unerschütterliche Rabbi, der zwischen den Welten wandelte, hinterließ ein Vermächtnis der Einheit. Jesus hatte ihm geholfen, seine pharisäischen Wurzeln und seine jüdische Identität richtig zu verstehen, nämlich als Sprungbrett für Gottes Gnade zu allen Völkern. Seine Botschaft: Juden und Heiden, vereint in Gottes Liebe. Die Torah wurde lebendig im Messias, und Paulus predigte sie mit einem Herzen, das für alle Menschen schlug. Möge seine unbezwingbare Vision der Einheit und des Friedens uns inspirieren, Brücken zu bauen, wo Mauern stehen, und die Liebe Gottes zu teilen, ohne Abstriche an der Wahrheit zu machen.

Die Reihenfolge der Bibeltexte und einige wertvolle Inspirationen stammen aus dem Buch The Jewish Apostle Paul: Rethinking One of the Greatest Jews that Ever Lived von Dr. Eli Lizorkin-Eyzenberg.

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